Rheinische Post - Geldern an Kevelaer
„Krise ist der Anfang von etwas Neuem“
Die Klimaschutzaktivistin spricht über den Zusammenhang von Umweltschutz und der Entstehung von Pandemien. Sie geht davon aus, dass wir weitere erleben werden – und sieht einen Ausweg.
Frau Neubauer, alle Welt redet über die Pandemie und ihre Bewältigung. Kommen Ihnen die Ursachen in der Diskussion zu kurz? NEUBAUER Ja, es gibt ein enormes Ungleichgewicht darin, wie viel über die tagesaktuelle Lage in der Pandemie gesprochen wird und wie wenig über die Umstände, die die Pandemie ermöglicht haben. Wir erleben einen „Jetzismus“, also eine Gegenwartsversessenheit. Das ist nicht hilfreich, wenn es darum geht, sich vor zukünftigen Krisen zu schützen. Viele Expertinnen und Experten sprechen bereits von einer pandemischen Zeit. Es wäre fatal auszublenden, dass wir Menschen Umstände geschaffen haben, in denen Zoonosen – also Infektionen, die vom Tier auf den Menschen überspringen – immer wahrscheinlicher werden.
Das klingt ganz danach, als würde uns die Natur etwas heimzahlen. Ist das nicht ein verzerrtes
Bild?
NEUBAUER Naja, Klima- und Naturzerstörung richtet sich nicht nur gegen Klima und Natur, sondern unmittelbar gegen uns Menschen. Wir haben bislang sehr unterkomplex über die Konsequenzen unseres ökologischen Räuberns gesprochen. Und als westlich privilegierte Mitteleuropäer konnte man sich ganz gut einreden, nicht besonders stark von den Folgen betroffen zu sein. Aber das stimmt auf so vielen Ebenen nicht! Die Zusammenhänge zwischen Klima, Umwelt und Gesundheit wurden bislang in der umweltpolitischen Debatte ausgeklammert.
Können Sie die Zusammenhänge genauer erklären?
NEUBAUER Eines vorweg: Ich berufe mich hier auf wissenschaftliche Erkenntnisse. Und die sind relativ beunruhigend. Die letzten großen Zoonosen wie HIV, Ebola, Sars, Mers, Zika sind in immer kürzeren Abständen aufgetreten. Die Frage ist, woher die große Nähe zwischen wilden Tieren und Menschen kommt, die diese Verbreitung ermöglicht. Dabei spielt Wildtierhandel eine Rolle – und zwar nicht nur in China. Es verschwinden aber auch immer mehr die geschützten Lebensräume dieser Tiere, weil wir bis in den letzten Fleck Wildnis vordringen. Auch der Klimawandel erhöht die Wahrscheinlichkeit von Pandemien.
Wenn wir Natur zerstören und Wälder roden, dann zerstören wir immer mehr die Chancen, dass wir sichere und gesunde Leben führen können. Wir können nicht gesund bleiben in einer kranken Umwelt.
Leiten Sie daraus Forderungen ab? NEUBAUER Wir erleben ja gerade, wie schnell es mit den Mutationen gehen kann. Manche sehen darin eine dritte Welle, andere sprechen schon jetzt von einer zweiten Pandemie. Diese Erfahrung müsste für die Bundesregierung, aber auch für Regierungen weltweit eine maximale Motivation sein, sich der Klimakrise entgegenzustellen und das Ende der Naturzerstörung anzugehen. Die Pläne und Zielsetzungen dafür liegen seit Jahren auf dem Tisch, aber Regierungen haben sich darüber hinweggesetzt. Man hat kein einziges der 20 UN-Biodiversitätsziele bis 2020 erreicht. Eine konkrete Idee ist, einen großen Teil des Planeten, etwa 30 bis 50 Prozent, unter Schutz zu stellen. Damit verbunden ist eine große Gerechtigkeitsfrage, weil man Menschen nicht ihren Lebensraum absprechen kann. Aber wir müssen darüber nachdenken, wie die Natur und wir uns von unserer eigenen Zerstörung erholen können.
Wird die Erfahrung dieser Pandemie das Bewusstsein für künftige ökologische Krisen schärfen? NEUBAUER Viel hängt davon ab, wie wir weiter über diese Pandemie sprechen. Wird uns die Pandemie als Krisenmoment in Erinnerung bleiben, den wir nicht wieder erleben wollen? Wir können es uns nicht leisten, weiterhin mit dieser Selbstgefälligkeit durch ökologische Räume zu räubern und anzunehmen, dass das nicht auf uns zurückfallen kann. Die Pandemie, die ökologischen Katastrophen, all das zeigt uns doch: Es fällt auf uns zurück.
Wie kann es gelingen, einerseits die Realität klar zu benennen und andererseits nicht zu viel Angst zu schaffen, um den Menschen nicht alle Motivation zu nehmen? NEUBAUER Es geht mir darum zu hinterfragen, warum wir nicht umfassend über diese Krisen sprechen. Es ist gefährlich anzunehmen, dass wir nur eine singuläre Pandemie erleben. Ich finde eine nächste Pandemie zwar unvorstellbar, aber es wäre gleichzeitig naiv zu glauben, dass das nie wiederauftaucht. Und dann: Gute Nacht.
Das klingt jetzt noch nicht nach Motivation zum Handeln. NEUBAUER Es braucht mehr Ernsthaftigkeit und Ehrlichkeit bei der Frage, was wir über die Ursachen dieser Pandemie wissen. Man sollte den Menschen reinen Wein einschenken. Ich glaube, das wäre ein Ausweg aus dieser Krisenversessenheit und -belastung, wenn wir über Natur-, Umwelt- und Klimaschutz als etwas sprechen, das zu 100 Prozent uns Menschen zugutekommt. Diese anstrengende, zehrende Zeit ist die beste Werbung für richtig gute Krisenprävention. Und für eine Politik, die anerkennt, dass die multiplen Krisen untrennbar miteinander verbunden sind. Ich finde es einen schönen Gedanken, über diese Krise als Anfang von einem neuen Selbstverständnis nachzudenken, das Menschen, ihre Gesundheit und Lebensräume künftig viel ernster nimmt.