Rheinische Post - Geldern an Kevelaer
Orangen gegen den Geschmacksverlust?
Kuriose Vorschläge zur Covid-19-Eigentherapie kursieren im Internet. Das sagen HNO-Professoren dazu.
AACHEN Ein Gerücht zieht um die Welt und hinterlässt eine Fahne aus Irritation und Hoffnung. Wer nach einer Covid-19-Erkrankung an einer Geschmacksstörung leide, der könne – so raten es diverse soziale Medien – ein Hausrezept von Oma anwenden. Man möge eine Orange rösten, bis sie schwarz ist, das Innere herausschneiden, dann zwei Löffel braunen Zucker in das Fruchtfleisch mischen und essen. Nach ungefähr einer Stunde werde man wieder etwas schmecken.
Hierbei handelt es sich um eine Form von Kundenfang, bei der die wissenschaftliche Expertise bislang durchs Netz geflutscht ist. Eine aussagekräftige internationale Studie gibt es nicht, wohl aber viele Selbstversuche mit mehr oder weniger aussagearmen Antworten – nach dem Motto: Ja, hat bei mir gewirkt, yippie! Nein, hat gar nichts gebracht, bäh! Am besten fragen wir drei HNO-Professoren, die sich mit Geschmacksstörungen auskennen, fragen wir Jörg Schipper (Uniklinik Düsseldorf ), Johannes Schultz (Helios-Klinikum Krefeld) und Martin Westhofen (Uniklinik Aachen): Was ist dran an der Orange?
Zunächst macht Schipper uns schlau: „Der Mensch verfügt über 4600 zwiebelförmige Geschmacksknospen, die bei einem schnellen Heilungsverlauf nach zehn bis 20 Tagen regenerieren. Diese Spontanheilung der Geschmacksknospen muss auch bei Covid-19 einfach abgewartet werden. Eine Kausaltherapie existiert nicht. Einen Vitaminmangel oder eine geänderte Speichelzusammensetzung sollte man allerdings ausschließen.“
Und warum brauchen manche Patienten länger mit der Genesung? Schipper: „In fortgeschrittenen Fällen kommt es auch zu Störungen im Bereich des zentralen Nervensystems.“Ein Lerntraining könne da jedenfalls nicht schaden, weil das Gehirn ja fortwährend neu lerne oder sich an frühere Sinneseindrücke erinnere. Schipper: „Das nennen wir neuronale Plastizität.“
Wichtig ist, dass man die Reaktionen nicht verwechsle, sagt Westhofen: „Schmeckt man wirklich etwas? Oder nimmt man nur eine sensible Komponente wahr, die einem einflüstert: Achtung, da kommt gleich etwas!“Solche sensiblen Empfindungen gebe es etwa bei als scharf empfundenen Speisen wie Ingwer, Menthol oder Eukalyptus. Bitter oder sauer, salzig oder süß – das sei aber noch nicht eigentlich das Aroma, sondern gleichsam eine Vorstufe. Westhofen glaubt nicht an die Orangengeschichte, hält aber Selbstversuche auch nicht für schädlich. Trotzdem: „Gerade bei Covid-19 muss man – was die Geschmacksstörungen betrifft – abwarten, und wenn dann in der Phase der Spontanheilung gerade die Orange probiert wird, kann man sie fälschlich für den Auslöser der Heilung halten, dabei war sie sowieso bereits im Gange. Die Rate der spontanen Verbesserungen beträgt je nach Untersuchung um die 50 Prozent, nach einigen Berichten sogar bis zu 80 Prozent.“
Schultz weist darauf hin, dass Riechen und Schmecken untrennbar voneinander seien, und benennt eine Vielzahl schädigender Einflussfaktoren: die chronische Nebenhöhlenentzündung, ein Trauma, eine virale Entzündung, neurodegenerative Erkrankungen wie die Alzheimer-Demenz oder Parkinson, außerdem Tumore. Auch er weiß: „Beim Geschmacksverlust nach Covid-19 gibt es einen hohen Anteil an Selbstheilungen und sogenannten Spontanremissionen.“
In welcher Weise der Verzehr des Fruchtfleisches gerösteter Orangen die Symptome mindert, sei unklar. „Ein wissenschaftlicher Zusammenhang ist nicht erkennbar, klinische Studien fehlen.“Zitrushaltige Riechstoffe seien integraler Bestandteil eines sogenannten Riechtrainings nach einem Riechverlust, „weil sie das Riechvermögen stimulieren und das Wiedererlangen des Riechens fördern“.
Schultz hat aber eine Theorie, was beim angeblich erfolgreichen Orangenversuch passiert sein könne. Die Tastkörperchen der Zunge können durch Berührung mit dem Orangenfleisch stimuliert worden sein, es könne auch eine Trigeminus-Reizung durch den Restgeschmack der verbrannten Schale eingetreten sein, auch über die Schmerzfasern des Mundrachenraums. Skeptisch bleibt Schultz, was Omas Orangenrezept betrifft. „Inwieweit es die Regeneration der geschädigten Sinneszellen einleitet oder Anstoß zur schnelleren Selbstheilung liefert, ist unklar.“