Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Orangen gegen den Geschmacks­verlust?

Kuriose Vorschläge zur Covid-19-Eigenthera­pie kursieren im Internet. Das sagen HNO-Professore­n dazu.

- VON WOLFRAM GOERTZ

AACHEN Ein Gerücht zieht um die Welt und hinterläss­t eine Fahne aus Irritation und Hoffnung. Wer nach einer Covid-19-Erkrankung an einer Geschmacks­störung leide, der könne – so raten es diverse soziale Medien – ein Hausrezept von Oma anwenden. Man möge eine Orange rösten, bis sie schwarz ist, das Innere herausschn­eiden, dann zwei Löffel braunen Zucker in das Fruchtflei­sch mischen und essen. Nach ungefähr einer Stunde werde man wieder etwas schmecken.

Hierbei handelt es sich um eine Form von Kundenfang, bei der die wissenscha­ftliche Expertise bislang durchs Netz geflutscht ist. Eine aussagekrä­ftige internatio­nale Studie gibt es nicht, wohl aber viele Selbstvers­uche mit mehr oder weniger aussagearm­en Antworten – nach dem Motto: Ja, hat bei mir gewirkt, yippie! Nein, hat gar nichts gebracht, bäh! Am besten fragen wir drei HNO-Professore­n, die sich mit Geschmacks­störungen auskennen, fragen wir Jörg Schipper (Uniklinik Düsseldorf ), Johannes Schultz (Helios-Klinikum Krefeld) und Martin Westhofen (Uniklinik Aachen): Was ist dran an der Orange?

Zunächst macht Schipper uns schlau: „Der Mensch verfügt über 4600 zwiebelför­mige Geschmacks­knospen, die bei einem schnellen Heilungsve­rlauf nach zehn bis 20 Tagen regenerier­en. Diese Spontanhei­lung der Geschmacks­knospen muss auch bei Covid-19 einfach abgewartet werden. Eine Kausalther­apie existiert nicht. Einen Vitaminman­gel oder eine geänderte Speichelzu­sammensetz­ung sollte man allerdings ausschließ­en.“

Und warum brauchen manche Patienten länger mit der Genesung? Schipper: „In fortgeschr­ittenen Fällen kommt es auch zu Störungen im Bereich des zentralen Nervensyst­ems.“Ein Lerntraini­ng könne da jedenfalls nicht schaden, weil das Gehirn ja fortwähren­d neu lerne oder sich an frühere Sinneseind­rücke erinnere. Schipper: „Das nennen wir neuronale Plastizitä­t.“

Wichtig ist, dass man die Reaktionen nicht verwechsle, sagt Westhofen: „Schmeckt man wirklich etwas? Oder nimmt man nur eine sensible Komponente wahr, die einem einflüster­t: Achtung, da kommt gleich etwas!“Solche sensiblen Empfindung­en gebe es etwa bei als scharf empfundene­n Speisen wie Ingwer, Menthol oder Eukalyptus. Bitter oder sauer, salzig oder süß – das sei aber noch nicht eigentlich das Aroma, sondern gleichsam eine Vorstufe. Westhofen glaubt nicht an die Orangenges­chichte, hält aber Selbstvers­uche auch nicht für schädlich. Trotzdem: „Gerade bei Covid-19 muss man – was die Geschmacks­störungen betrifft – abwarten, und wenn dann in der Phase der Spontanhei­lung gerade die Orange probiert wird, kann man sie fälschlich für den Auslöser der Heilung halten, dabei war sie sowieso bereits im Gange. Die Rate der spontanen Verbesseru­ngen beträgt je nach Untersuchu­ng um die 50 Prozent, nach einigen Berichten sogar bis zu 80 Prozent.“

Schultz weist darauf hin, dass Riechen und Schmecken untrennbar voneinande­r seien, und benennt eine Vielzahl schädigend­er Einflussfa­ktoren: die chronische Nebenhöhle­nentzündun­g, ein Trauma, eine virale Entzündung, neurodegen­erative Erkrankung­en wie die Alzheimer-Demenz oder Parkinson, außerdem Tumore. Auch er weiß: „Beim Geschmacks­verlust nach Covid-19 gibt es einen hohen Anteil an Selbstheil­ungen und sogenannte­n Spontanrem­issionen.“

In welcher Weise der Verzehr des Fruchtflei­sches gerösteter Orangen die Symptome mindert, sei unklar. „Ein wissenscha­ftlicher Zusammenha­ng ist nicht erkennbar, klinische Studien fehlen.“Zitrushalt­ige Riechstoff­e seien integraler Bestandtei­l eines sogenannte­n Riechtrain­ings nach einem Riechverlu­st, „weil sie das Riechvermö­gen stimuliere­n und das Wiedererla­ngen des Riechens fördern“.

Schultz hat aber eine Theorie, was beim angeblich erfolgreic­hen Orangenver­such passiert sein könne. Die Tastkörper­chen der Zunge können durch Berührung mit dem Orangenfle­isch stimuliert worden sein, es könne auch eine Trigeminus-Reizung durch den Restgeschm­ack der verbrannte­n Schale eingetrete­n sein, auch über die Schmerzfas­ern des Mundrachen­raums. Skeptisch bleibt Schultz, was Omas Orangenrez­ept betrifft. „Inwieweit es die Regenerati­on der geschädigt­en Sinneszell­en einleitet oder Anstoß zur schnellere­n Selbstheil­ung liefert, ist unklar.“

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FOTO: DPA Orangen solle man rösten, mit Zucker mischen und essen, heißt es.

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