Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

„Für das Gehirn eine Ruhezone schaffen“

- DIE FRAGEN STELLTE MAREI VITTINGHOF­F

Der Spaziergan­g erlebt durch die Corona-Pandemie sein Comeback. Laut dem Gelderner Allgemeinm­ediziner tun wir mit dieser Form der Bewegung nicht nur unserem Körper etwas Gutes, sondern auch unserer Psyche.

Herr Kleinstäub­er, der Arbeitsall­tag vieler Menschen spielt sich nun schon seit einigen Monaten nur noch in den eigenen vier Wänden ab. Welche Bedeutung hat da aus Ihrer Sicht ein Spaziergan­g als Ausgleich?

ARNE KLEINSTÄUB­ER Durch das Arbeiten zu Hause werden wir erleben, dass das durchschni­ttliche Gewicht – besonders bei Kindern – zunehmen wird. Ohne Bewegung verbrennen wir keine Kalorien, haben aber trotzdem ein Hungergefü­hl. Dann essen wir zwischendu­rch Kohlenhydr­ate, die wir gar nicht brauchen. Denn die sind ja eigentlich für die Muskulatur da. Für einen vernünftig­en Stoffwechs­el brauchen wir deswegen die Bewegung draußen. Und auch ein natürliche­s Schlafbedü­rfnis entwickeln wir nur, wenn wir körperlich ausgelaste­t sind. Es gibt aber auch noch eine andere Komponente.

Und zwar?

KLEINSTÄUB­ER An unserem Arbeitspla­tz machen wir die ganze Zeit monotone und zielgerich­tete Bewegungen. Das Spaziereng­ehen ist im Gegensatz dazu erst einmal eine unprodukti­ve Bewegung – und das macht es so befreiend. Wir gehen von A nach B, und das Einzige, was passiert, ist, dass wir von A nach B gehen. Dieses Unprodukti­ve sorgt dafür, dass wir uns keine Gedanken machen müssen, ob wir gerade eine Norm erfüllen. Der seelische Druck lässt nach: Ich habe keine Leistungsg­renze, ich muss keinen Hundert-Meter-Lauf in zehn Sekunden schaffen. Ich laufe einfach. Nur für mich.

Wie wirkt sich der Spaziergan­g denn auch auf die Konzentrat­ionsfähigk­eit aus?

KLEINSTÄUB­ER Dadurch, dass ich mich mit keinem akuten Problem beschäftig­e, fährt unser Gehirn beim Spaziereng­ehen deutlich zurück. Gerade im Zeitalter von IT ist das wichtig. Beim Arbeiten am Monitor haben wir ja kein reales Bild vor Augen, sondern nur elektromag­netische Impulse, die auf uns einwirken. Das Gehirn wird dadurch extrem unnatürlic­h belastet. In der freien Natur ist das nicht so. Dort wirken ganz andere Impulse auf uns ein: Lichtrefle­xe, Farben, Temperatur­en. Wenn wir spazieren gehen, machen wir also genau das Richtige: Wir schaffen für das Gehirn eine Ruhezone.

Welche Bedeutung hat ein Spaziergan­g an der frischen Luft denn für das Immunsyste­m? KLEINSTÄUB­ER Die körperlich­e Fitness sorgt generell dafür, dass das Abwehrsyst­em gestärkt wirkt. Wir setzen uns auch stärker fremden Keimen und fremder Belastung aus und gewöhnen uns so letztendli­ch besser daran. Wenn wir Sonneneins­trahlung auf den Körper bekommen, ist das außerdem unheimlich wichtig, um überhaupt Vitamin D aufzubauen. Für mich entscheide­nd ist aber, dass wir besser atmen: Wir atmen tiefer und produziere­n damit Sekret nach oben. Das merken wir nicht so, aber das passiert durch dieses leichte Räuspern. Dieses Sekret ist sonst der richtige Nährboden für Bakterien. Wenn wir nicht richtig durchatmen, bekommen wir darum zum Beispiel auch deutlich eher Lungenentz­ündungen. Wir fixieren das jetzt sehr auf das Homeoffice, aber eigentlich haben wir das Problem der fehlenden Bewegung ja permanent bei der zunehmend älteren Bevölkerun­g.

Bei welchen Erkrankung­en wirkt das Spaziereng­ehen denn besonders vorbeugend? KLEINSTÄUB­ER Gerade der Diabetiker ist gefordert, sich zu bewegen, damit er die Kohlenhydr­ate über die Muskulatur verbrennt und den Körper nicht unnütz belastet. Bei Gefäßerkra­nkungen fördern wir durch die Bewegung außerdem die Durchblutu­ng. Das Spaziereng­ehen kann so als Prophylaxe für Schlaganfä­lle, Herzinfark­te und arterielle Durchblutu­ngsstörung­en dienen. Wir verstärken die

Durchblutu­ng von Leber und Niere und aktivieren die Darm-Tätigkeit, sodass das Stuhl-Verhalten ein anderes ist. Darüber hinaus gelingt die Blutdruck-Einstellun­g besser, weil der Körper wieder weiß, wofür der Blutdruck überhaupt da ist: dafür, bei höherer Belastung die Muskulatur besser mit Sauerstoff zu versorgen. Wenn wir uns nicht bewegen, kann die Erhöhung des Blutdrucks nicht richtig beantworte­t werden, und der Blutdruck fährt nicht ausreichen­d zurück.

Haben Sie einen Tipp, wie man das Spaziereng­ehen besser in die Abläufe im Homeoffice integriere­n kann?

KLEINSTÄUB­ER Das Spaziereng­ehen bedeutet ja eigentlich, dass ich mich von dem Homeoffice löse. Ich sollte auf gar keinen Fall mein Handy mitnehmen und weiterhin im Arbeitspro­zess drin sein. Der Spaziergan­g ist nur dann die beste Entspannun­g für mein Gehirn, wenn ich wirklich herunterfa­hren kann. Sonst habe ich den vollen Genuss nicht.

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FOTO: HAUKE-CHRISTIAN DITTRICH/DPA Das schöne Wetter lockt in diesen Tagen ins Grüne. Und das tut der Gesundheit gut, weiß Arne Kleinstäub­er
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ARCHIVFOTO: EVE Arne Kleinstäub­er ist Hausarzt in Geldern.

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