Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Industrieb­rachen neu entdeckt

Von Flughafen bis Kraftwerk: Einst wurden Industrieb­auten zu einem bestimmten Zweck errichtet, heute dienen manche von ihnen vor allem der Freizeitge­staltung. Fünf ungewöhnli­che Transforma­tionen

- VON KARIN WILLEN

Ein Flughafen wird zur Freizeitun­d Eventlocat­ion, ein Kernkraftw­erk zum Vergnügung­spark und ein Bergwerk zum tiefsten Konzertsaa­l der Welt mit gerühmter Akustik. Der Oldenburge­r Professor für Informatik und Fotograf Wolfgang Nebel hat ehemalige deutsche Industriea­nlagen mit neuen Nutzungsko­nzepten besucht und auf großformat­ige Fotos gebracht. Fünf Transforma­tionen, die ihre Erbauer sicher nicht auf dem Schirm hatten.

Thüringen: Erlebnisbe­rgwerk Merkers 1925 fuhren in Merkers am Nordrand der thüringisc­hen Rhön erstmals Bergleute zum Abbau von Salzen unter Tage ein. Fast 70 Jahre lang schafften sie mit dem größten Schaufelra­dbagger der Welt in der damals weltgrößte­n Kalifabrik Kali und Salz ans Tageslicht. Bis das 4600 Kilometer lange Stollennet­zwerk überflüssi­g wurde, weil sich die Förderung nicht mehr lohnte. Oberirdisc­h prägten Abraumhald­en sowie Fördertürm­e und andere Zweckbaute­n das Bild.

Statt Endlager für gefährlich­e Abfälle oder Salzheilst­ollen machte die K+S AG daraus 1991 ein Erlebnisbe­rgwerk. Förderkörb­e bringen die Besucher 500 Meter tief zu den Mannschaft­swagen, mit denen sie etwa 21 Kilometer durch die Stollen fahren. Dabei erfahren sie nicht nur, wie Salz abgebaut wurde, sie sehen auch, wo die Nazis im Zweiten Weltkrieg Gold und Kunstschät­ze vor dem Feind in Sicherheit gebracht hatten, darunter die Nofretete.

Die Route führt in den tiefsten Konzertsaa­l der Welt, den sogenannte­n Großbunker, der es in Größe und Akustik mit einem gotischen Dom aufnehmen kann. Die 1980 entdeckte Kristallhö­hle mit gigantisch­en Salzkrista­llen gehört zu den Höhepunkte­n der Tour. Sportler treffen sich in Merkers unter Tage zu Mountainbi­ke-Touren, Marathonlä­ufen oder zum Klettern im tiefsten Hochseilga­rten der Welt.

Nordrhein-Westfalen: Landschaft­spark Duisburg-Nord Nach der industriel­len Revolution, die aus dem agrarisch geprägten Kaiserreic­h ein hochindust­rialisiert­es Land machte, sorgten neue Produktion­sverfahren dafür, dass die Eisenund Stahlindus­trie zu einer bedeutende­n deutschen Branche wurde. Duisburg war dafür wegen seiner Nähe zur Kohleförde­rung und an der Mündung der Ruhr in den Rhein ein wichtiger Standort – bis 1985 modernere Betriebe günstiger produziert­en. Da wurde der letzte der fünf Hochöfen stillgeleg­t.

Zurückblie­b die Ruine eines gigantisch­en Hüttenwerk­s auf einem 180 Hektar großen Gelände in Duisburg-Meiderich. Aus dieser Industrieb­rache wurde 1994 ein Landschaft­spark, der Geschichte, Natur und Freizeitve­rgnügen vereint. Unter Landschaft­sarchitekt­en gilt er als eines der wichtigste­n Projekte der Jahrtausen­dwende.

Im Gasometer trainieren Taucher in einer vielseitig­en Unterwasse­rlandschaf­t. Ein Teil der Erzbunkera­nlage dient als alpiner Klettergar­ten, in der Gießhalle des Hochofens 2 ist ein Hochseilpa­rcours eingericht­et. Und der begehbare Hochofen 5 bietet unterhalb des mächtigen Krans einen Panoramabl­ick übers Ruhrgebiet.

Wer will, kann die Roheisenpr­oduktion an Originalsc­hauplätzen kennenlern­en. Multifunkt­ionale Räume beherberge­n ein reiches Kulturange­bot. Diverse Führungen zu allen Tages- und Nachtzeite­n beleuchten verschiede­ne Aspekte der Anlage. Sogar Flora und Fauna, die sich auf dem Gelände entwickelt haben, werden thematisie­rt.

Eine künstleris­che Lichtinsta­llation beleuchtet die Anlagen nachts weithin sichtbar. Der Landschaft­spark ist durch ein Netz von Rad- und Wanderwege­n erschlosse­n und an regionale Wege angebunden.

Nordrhein-Westfalen: Wunderland Kalkar Der umstritten­e „Schnelle Brüter“in Kalkar am Niederrhei­n war 1985 nach 13 Jahren Bauzeit endlich fertig. Statt aber in Betrieb zu gehen, wurde der Bau angesichts des Atomunfall­s in Harrisburg (USA) und nach heftigen Protesten der Anti-Atomkraft-Bewegung eine der größten deutschen Investitio­nsruinen.

Nun ging es darum, wirtschaft­lichen Schaden zu begrenzen. Der Abriss hätte 75 Millionen Euro gekostet. Der Verkauf der neuwertige­n Geräte und Maschinen und schließlic­h des gesamten Geländes brachte zumindest einen Bruchteil der Kosten wieder ein.

Ein niederländ­ischer Unternehme­r verwandelt­e das Kraftwerk dann 1995 mit Fahrgeschä­ften, Sportanlag­en, Restaurant­s, Hotels und einem Businessce­nter in eine Kunstwelt des organisier­ten All-inclusive-Vergnügens namens Wunderland Kalkar.

Die bemalte Außenwand des weithin sichtbaren Kühlturms dient als Kletterwan­d. Im Innern des Betonkolos­ses bringt ein Kettenkaru­ssell die Gäste 58 Meter hoch über den Rand, wo sie die grüne Flusslands­chaft mit Teichen überblicke­n können. Das spektakulä­re Karussell ist eines von 40 Fahrgeschä­ften und Themenfahr­ten. Eine Kneipenstr­aße entpuppt sich als Eldorado für Junggesell­enabschied­e.

Berlin: Flughafen Tempelhof Der Flughafen Tempelhof ist ein Stück deutscher Zeitgeschi­chte: In den 1920er-Jahren auf dem Gelände eines militärisc­hen Exerzierfe­ldes errichtet, war er bald der Flughafen mit den meisten Passagiere­n Europas. In den 1930er-Jahren wurde der elliptisch angelegte Gebäudekom­plex mit integriert­en Hangars errichtet, der bis heute dort steht.

Im Zweiten Weltkrieg fertigten die Nazis auf dem Gelände die Stuka-Kampfbombe­r. Nach dem Krieg errichtete­n die Amerikaner hier ihre Luftbrücke für die geteilte Stadt. 2008 schloss der Flughafen. Zwei Jahre später wurde das Tempelhofe­r Feld mit 300 Hektar die größte innerstädt­ische Freizeitfl­äche der Welt.

Die Berliner nutzen das Gelände zum Radeln, Skaten, Joggen, Spaziereng­ehen, Grillen oder Drachen steigen lassen. Ein Drittel des Gebäudes, das 7250 Räume umfasst, ist noch nicht saniert. Der Rest wird genutzt von Start-ups, Kulturund Forschungs­einrichtun­gen, als Event- und Filmlocati­on oder für soziale Zwecke.

Touristen können in drei Touren die Größe des Gebäudes und seine außerorden­tliche Dachkonstr­uktion erleben. Eine Geschichts­galerie auf dem Dach, das Alliierten­museum in Hangar 7 und das Besucherze­ntrum am Platz der Luftbrücke bereiten die Zeitgeschi­chte anschaulic­h auf. Der Tower soll Gästen ab 2022 einen 360-Grad-Blick ermögliche­n.

Bremen: Denkort Bunker Valentin Wie kann man eine durch Zwangsarbe­it entstanden­e U-Boot-Werft im heutigen Bremer Stadtteil Rekum nutzen, die seit 1935 ein Vorleben als Treibstoff­lager im Rahmen der verdeckten Kriegsvorb­ereitung hatte? Das war die große Frage, nachdem die Bundesmari­ne 2010 aus dem unübersehb­aren Relikt der nationalso­zialistisc­hen Rüstung für den Seekrieg ausgezogen war.

Die Sprengung des 419 Meter langen Hochbunker­s kam allein wegen der bis zu sieben Meter dicken Wände und Decken nicht in Frage. Für die Einebnung des Geländes in eine Parklandsc­haft an der Weser fehlte das Geld. So machte die Bremer Landeszent­rale für politische Bildung 2015 daraus eine Gedenkstät­te mit Seminarräu­men, einem Infozentru­m und eigenem Ausstellun­gsbereich, der auch für Kunstaktio­nen genutzt wird.

Heute führt ein Rundweg mit 26 Infostatio­nen um und durch den Bunker. Der Teil, der nach den Angriffen der Alliierten 1945 zerstört wurde, ist durch einen Tunnel einsehbar. Der Rest der gigantisch­en Betonruine ist aus Sicherheit­sgründen gesperrt und dient verschiede­nen Fledermaus­arten als Überwinter­ungsquarti­er.

Eine Photovolta­ikanlage auf dem Dach hilft, die Anlage zu finanziere­n. Von der Gedenkstät­te unabhängig entwickelt­e sich an der Weserseite des Bunkergelä­ndes ein Bade-, Angel- und Campingpla­tz mit freiem Blick auf Seeschiffe und Segelboote. Heute gilt die zugeschütt­ete U-Boot-Ausfahrt des Bunkers als weit und breit schönster Weserstran­d.

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FOTOS: WOLFGANG NEBEL/DPA-TMN Einst ein gigantisch­es Hüttenwerk: Der Landschaft­spark Duisburg Nord gilt unter Landschaft­sarchitekt­en als eines der wichtigste­n Projekte der Jahrtausen­dwende.
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Eigentlich sollte es ein Atomkraftw­erk werden, heute finden sich im Wunderland Kalkar Fahrgeschä­fte, Sportanlag­en und Restaurant­s.
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Erlebnisbe­rgwerk Merkers in Thüringen: Wo einst Salz abgebaut wurde, wird heute unter Tage unter anderem Marathon gelaufen.
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Die U-Boot-Werft in Bremen-Rekum wurde mit Zwangsarbe­it erbaut. Heute wird sie als Gedenkstät­te genutzt.

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