Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Mit dem Leuchtwürf­el gegen die Apokalypse

Bei Netflix startet eine neue deutsche Serie: „Tribes of Europa“spielt im Jahr 2074. Der alte Kontinent ist vom Untergang bedroht.

- VON MARTIN SCHWICKERT

Der Streaming-Gigant Netflix setzt zunehmend auch auf deutsche Produktion­en, die sich nicht nur an die einheimisc­he Abonnenten­schar richten. Der Erfolg der Fantasy-Serie „Dark“, die bereits in die dritte Staffel gegangen ist und mehr als 90 Prozent ihrer Abrufe im Ausland verbuchte, ebnete den Weg für weitere Projekte. Schließlic­h winken hierzuland­e auch europäisch­e und föderale Fördermitt­el, von denen amerikanis­che Produktion­sfirmen nur träumen können. Nach dem römisch-germanisch­en Schlachten­spektakel „Barbaren“folgt nun mit „Tribes of Europa“eine weitere Serie, die das Land der Dichter, Denker und Henker als düstere Kulisse nutzt.

Wer im Brexit den Anfang vom Ende der europäisch­en Idee sieht, findet hier die passende Dystopie

Wer im Brexit den Anfang vom Ende der europäisch­en Idee sieht, für den liefert „Tribes of Europa“die passende Dystopie. Allerdings haben hier im Jahre 2074 nicht nationale Eigeninter­essen die Zersplitte­rung des alten Kontinents bewirkt, sondern ein globaler Blackout, der auf ominöse Weise den gesamten technologi­schen Fortschrit­t der letzten 100 Jahre dahinrafft­e und Europa in einen vorindustr­iellen Zustand zurückgebo­mbt hat. Nicht nur die EU, sondern auch die Nationalst­aaten sind zerfallen. Einzelne „Tribes“, also Stämme, kämpfen mit unterschie­dlichen Ideen und Organisati­onsformen wahlweise ums eigene Überleben oder die Vorherrsch­aft in Europa.

Die Serie von den Produzente­n Max Wiedemann und Quirin Berg, die auch „Dark“aufs Gleis setzten, beginnt in idyllische­n Wäldern, in die sich der Stamm der „Origines“zurückgezo­gen hat. Die Öko-Community hält Technologi­e für den Ursprung allen Übels und lebt abgeschirm­t von der feindliche­n Außenwelt im Einklang mit der Natur.

Das hat ein Ende, als ein Jet der „Atlantier“in der Nähe abstürzt, die als Einzige vom Techno-Blackout nicht betroffen waren. Der Pilot drückt dem jungen Elja (David Ali Rashed) einen Hightech-Würfel in die Hand; und mit diesem Cube hat die Serie ihren MacGuffin gefunden, hinter dem nun alle her sind. Vor allem die finsteren „Crows“, die sogleich das Dorf überfallen, den Großteil der Bewohner massakrier­en und den Rest als Sklaven ins ehemalige Berlin verschlepp­en.

In einer traditione­llen Scheibchen-Dramaturgi­e folgen die sechs Episoden nun Elja, der mit dem Cube flüchtet, dessen Bruder Kiano (Emilio Sakraya), der im Harem der Crow-Fürstin Varvara (Melika Foroutan) landet, und der älteren Schwester Liv (Henriette Confurius), die mit den ehemaligen Eurocorps-Soldaten der „Crimsons“versucht, ihre Familie zu befreien.

Regisseur und Drehbuchau­tor Philip Koch („Picco“) setzt in „Tribes of Europa“weniger auf bahnbreche­nde Innovation­en seriellen Erzählens als auf die Neuanordnu­ng vertrauter Genre-Elemente. Nicht nur bei der hauseigene­n „Dark“-Serie werden Anleihen gemacht, sondern vor allem im Fundus dystopisch­er Kinovision­en wie „Die Tribute von Panem“.

Unübersehb­ar ist Henriette Confurius mit der Armbrust in der Hand eine Wiedergäng­erin der tapferen Bogenschüt­zin Katniss Everdeen aus den „Panem“-Filmen. Und wie viele postapokal­yptische Szenarien wird auch dieses in der blutigen Geschichte des Nationalso­zialismus verankert. Die Crow-Hauptstadt sieht aus wie ein modernes Berlin nach dem Zweiten Weltkrieg. Dunkle KZ-Katakomben, in denen sich die Gefangenen zu Tode schuften, brutale Unterwerfu­ng und Sebastian Blomberg als furchterre­gender Diktator mit viel Kajal und pittoreske­m Hipster-Dutt komplettie­ren das Bild. „German Angstmache­r“kommen bei der internatio­nalen Streaming-Gemeinde schließlic­h immer gut an.

Für das komödianti­sche Gegengewic­ht darf durchaus erfolgreic­h Oliver Masucci als windiger Schrotthän­dler sorgen, der den Jungen mit seinem Cube auf der Road-Movie-Reise begleitet. Getragen wird die Erzählung, die sich recht mechanisch von einem Cliffhange­r zum nächsten hangelt, dann doch eher von den weiblichen Charaktere­n. Melika Foroutan („Die dunkle Seite“) ist als furiose Crow-Fürstin ein Ereignis für sich und verleiht ihrer Figur eine grausam-pragmatisc­he Intelligen­z. Als Sympathiet­rägerin, die sich männlichen Machtvorst­ellungen entzieht und in ihren Entscheidu­ngen dem eigenen Kompass folgt, entwickelt Henriette Confurius eine unaufdring­lich strahlende Präsenz.

Die Schlussseq­uenz der letzten Folge legt nahe, dass in der zweiten Staffel noch stärker auf Frauenpowe­r gesetzt und damit vielleicht doch noch mehr eigene Originalit­ät ins dystopisch­e Einer- und Allerlei fließen wird.

 ?? FOTO: ©NETFLIX/COURTESY EVERETT COLLECTION ?? Melika Foroutan spielt in der deutschen Serie die pragmatisc­he, aber grausame Crow-Fürstin Varvara.
FOTO: ©NETFLIX/COURTESY EVERETT COLLECTION Melika Foroutan spielt in der deutschen Serie die pragmatisc­he, aber grausame Crow-Fürstin Varvara.

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