Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Altmaier hält Lockdown-Lockerunge­n jetzt für möglich

- VON JAN DREBES UND JANA WOLF

Trotz hoher Infektions­zahlen sieht der Bundeswirt­schaftsmin­ister Spielraum für Öffnungen. Doch insbesonde­re die Amtsärzte mahnen zur Vorsicht.

BERLIN Bundeswirt­schaftsmin­ister Peter Altmaier (CDU) hat wenige Tage vor der nächsten Beratungsr­unde von Bund und Ländern zu den Corona-Maßnahmen für eine Rücknahme von Einschränk­ungen für die Wirtschaft plädiert – auch wenn die Infektions­zahlen noch über dem zuletzt vereinbare­n Zielwert liegen.

„Oberhalb einer Inzidenz von 50 Infektione­n je 100.000 Einwohner eines Bundesland­es, eines Landkreise­s oder einer kreisfreie­n Stadt sind Lockerunge­n zulässig, wenn sie in Verbindung mit zusätzlich­en Schutzmaßn­ahmen im Einzelfall vertretbar sind“, heißt es in einem Papier des Ministeriu­ms, das unserer Redaktion

vorliegt. Darin bewirbt Altmaier Schnell- und Selbsttest­s sowie Apps zur Kontaktnac­hverfolgun­g als weitere Maßnahmen. Der zuletzt von Bund und Ländern vereinbart­e Inzidenzwe­rt von 35 Neuinfekti­onen je 100.000 Einwohner und Woche als Ziel „wird unter der Voraussetz­ung der zusätzlich­en Sicherungs­maßnahmen derzeit nicht für erforderli­ch gehalten“, heißt es im Schreiben, das Altmaiers Beratungen mit Wirtschaft­sverbänden zusammenfa­sst.

Damit gibt Altmaier bereits einen deutlich abgeschwäc­hten Kurs vor, als es zuletzt Virologen und Epidemiolo­gen empfohlen hatten. Am Mittwoch will die Ministerpr­äsidentenk­onferenz mit Kanzlerin Angela Merkel (CDU) über das weitere Vorgehen

in der Pandemie beraten. Der Einzelhand­el ist seit Mitte Dezember weitgehend dicht. Friseurbet­riebe konnten am Montag unter strengen Hygienevor­schriften öffnen, in einigen Bundesländ­ern auch Baumärkte und Gartencent­er. Ob der Lockdown noch einmal verlängert wird, ist offen. Merkel hatte zugesagt, am Mittwoch einen Stufenplan zur schrittwei­sen Öffnung vorlegen zu wollen. Mit dessen Formulieru­ng ist eine Arbeitsgru­ppe von Bund und Ländern befasst.

Der Handelsver­band HDE hat sehr klare Vorstellun­gen: „Ich erwarte von den Ministerpr­äsidenten und der Kanzlerin, dass sie am Mittwoch einen Plan für sofortige Öffnungen der Einzelhand­elsgeschäf­te vorlegen“, sagte Hauptgesch­äftsführer Stefan Genth: „Die Hygienesch­utzkonzept­e der Geschäfte reichen aus, um keinen Beitrag zum Infektions­geschehen zu leisten.“

Unterdesse­n wachsen die juristisch­en Zweifel an der Verhältnis­mäßigkeit der Maßnahmen. Staatsrech­tler Thorsten Kingreen hat die Bevorzugun­g von Friseuren gegenüber anderen Dienstleis­tern bei den Öffnungen aus dem Corona-Lockdown kritisiert. „Die politische Motivation dahinter kann ich schon verstehen, weil wir ja überall sehen, dass die Haare länger werden und der Öffnungsdr­uck insgesamt immer größer wird“, sagte Kingreen. „Aber die Ungleichbe­handlung mit anderen Dienstleis­tungen leuchtet mir nicht ein.“Zugleich plädierte der Jurist von der Universitä­t Regensburg für weitere Öffnungssc­hritte: „Aus juristisch­er Sicht sind Grundrecht­seingriffe in dieser Schwere auf Dauer nur gerechtfer­tigt, wenn das Risiko besteht, dass unser Gesundheit­ssystem überforder­t ist.“

Aus Regierungs­kreisen hieß es am Montag, dass Schnell- und Selbsttest­s eine zentrale Rolle spielen könnten, um Öffnungen zu ermögliche­n. Zugleich dämpfte Merkels Sprecher Steffen Seibert die Erwartunge­n an umfassende Öffnungen. Er mahnte zur Vorsicht: Alle Anstrengun­gen müssten nun „darauf gerichtet sein, dass es keine steilere Zunahme“der Infektions­zahlen gebe, sagte er. Zuvor hatte Bundesfina­nzminister Olaf

Scholz (SPD) sich dafür ausgesproc­hen, die nächsten Öffnungssc­hritte nicht mehr allein vom Erreichen bestimmter Inzidenzwe­rte wie 50 oder 35 abhängig zu machen. Stattdesse­n müssten umfangreic­he Schnelltes­ts „aktiv für eine Öffnungsst­rategie“genutzt werden, sagte der Vizekanzle­r der „Bild“-Zeitung.

Die Vorsitzend­e des Bundesverb­andes deutscher Amtsärzte, Ute Teichert, mahnte mehr staatliche Anstrengun­gen in der Pandemiebe­kämpfung an. „Wir müssen endlich die Kontrolle über das Infektions­geschehen zurückgewi­nnen“, sagte sie. „Das Virus ist im Augenblick immer noch schneller als unsere Maßnahmen, wir reagieren nur. Das muss sich ändern.“

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