Rheinische Post - Geldern an Kevelaer
Die Suche nach den Infektionswegen
Nach rund einem Jahr Pandemie gibt es zahlreiche Daten und Forschungsergebnisse. Trotzdem wissen wir wenig über das Virus und die Verbreitung, sagen Experten. Wie kann das sein?
Seit Beginn der Pandemie vor mehr als einem Jahr sucht die Forschung Antworten auf viele Fragen rund um das Coronavirus, Krankheitsverläufe und die Wirksamkeit von Gegenmaßnahmen. In wissenschaftlichen Fachjournalen werden Studienergebnisse publiziert, so oft wie sonst nie werden Studien vor ihrer wissenschaftlich offiziellen Veröffentlichung bemüht.
„Ich glaube, wir haben eine Menge Wissen über die Pandemie gesammelt“, sagt Hajo Zeeb, Leiter der Abteilung Prävention und Evaluation am Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie (BIPS). Und doch sind drängende Fragen ungeklärt. Eine zentrale ist: Wo stecken wir uns an? Im Supermarkt, am Arbeitsplatz, in öffentlichen Verkehrsmitteln? Da das gesellschaftliche Leben seit November erneut sehr weitgehend auf Eis liegt, könnte man meinen, es sei einfach, diese Orte zu identifizieren. Doch dem ist nicht so.
Im wöchentlichen Lagebericht des Robert-Koch-Instituts (RKI) ist von einer „diffusen Ausbreitung“die Rede. Infektionsketten seien nicht eindeutig nachvollziehbar, heißt es nachfolgend. Häufungen werden in Zusammenhang mit privaten Haushalten, dem beruflichen Umfeld und Alten- und Pflegeheimen genannt.
Präventionsforscher Zeeb bestätigt das. Infektionen bleiben überall dort ein Thema, wo Menschen nah zusammenstehen und Masken nicht korrekt tragen. Das kann überall sein. „Also auch am Arbeitsplatz oder im Supermarkt“, sagt der Präventionsforscher. Jetzt, wo die Schulen für verschiedene Jahrgänge nach und nach wieder öffnen, werden sich Kinder nach Wochen der sozialen Isolation trotzdem umarmen, auch werden viele weiterhin mit öffentlichen Verkehrsmitteln Wege zurücklegen.
Viele Ansteckungsszenarien sind möglich, doch sie sind nach Auffassung von Experten in der Vergangenheit oft zu planlos dokumentiert worden. Selbst bei den erfassten Infektionsfällen lassen sich die Wege der Ansteckung kaum zurückverfolgen: Nur in rund 30 Prozent der Fälle gelinge dies, sagt Zeeb. Für fundierte Aussagen fehlten schlicht Daten.
Ein Beispiel: Wird ein Bewohner einer Pflegeeinrichtung positiv getestet, kann man fast mit Sicherheit sagen, dass er sich dort infiziert hat. Bei Pflegekräften lässt sich der Infektionsweg hingegen schon schwieriger rückverfolgen. Haben sie sich bei der Arbeit im Kontakt zu Infizierten angesteckt, bei der Busfahrt zum Arbeitsplatz oder doch beim Einkauf am Morgen?
Hinzu kommt: Die Gesundheitsämter sammeln zwar Infektionszahlen, doch im akuten Management der vielen Fälle der vergangenen Monate sei der Fokus auf eine Auswertung verlorengegangen und gar nicht mehr zu leisten, sagt Zeeb. Erst jetzt, wo die Inzidenzwerte langsam unter eine kritische Marke kommen, könne man die Rückverfolgung wieder aufnehmen. Man hätte die Daten aus den Gesundheitsämtern von Beginn der Pandemie anders auswerten können, sagt Rainer Schnell. Er hat einen Lehrstuhl für Methoden der empirischen Sozialforschung an der Universität Duisburg-Essen und vermittelt dort Studenten gleich zu Beginn ihres Studiums, worauf es bei Methodik und Planung von Studien ankommt.
Dass es derzeit so schwer ist, Fragen nach dem Infektionsgeschehen zu beantworten, führt er nicht darauf zurück, dass zu wenige Daten erfasst werden. Doch seien sie unvollständig, zeigten nur Momentaufnahmen oder seien nicht repräsentativ. Darum lassen sich laut Schnell keine aussagekräftigen Zusammenhänge daraus ableiten.
Man wisse daher zu wenig über Zusammenhänge von Lebensumständen und Ansteckungsrisiken, darüber, wo man sich anstecke und auch darüber, ob Menschen in Deutschland wirklich an oder doch mit Corona sterben. Auch Daten über Langzeitwirkungen verschiedener Maßnahmen gebe es nicht.
Genau vor diesem Problem standen neben Präventionsforscher Zeeb auch andere Wissenschaftler, deren Empfehlungen in die aktuelle Leitlinie für Schulen einflossen. In diesem Papier sind alle Maßnahmen zusammengefasst, die dazu beitragen sollen, die Öffnung der Schulen möglichst sicher zu gestalten.
Das Praxisproblem der Wissenschaftler: Als es darum ging zu sondieren, welche Masken den Schulalltag sicherer machen würden, hofften die Forscher auf Erkenntnisse aus existierenden Studien. Doch gab es zwar wissenschaftliche Arbeiten zum Thema Masken insgesamt, hingegen kaum welche, die Daten an Schulen gesammelt hätten, berichtet Zeeb. Vielen Studien fehle es zudem an wissenschaftlich evidenzbasierten Ergebnissen.
So empfehlen die Experten zwar zum Schulstart allgemein das Maskentragen.
Ebenso ist den Leitlinien jedoch auch zu entnehmen: „Die gewonnenen Erkenntnisse beruhen zu großen Teilen auf Modellierungsstudien (Anm. d. Red.: rein rechnerische Beispielszenarien) mit Qualitätsmängeln. Die Vertrauenswürdigkeit dieser Evidenz ist sehr niedrig oder niedrig.“
Methodiker Rainer Schnell spricht ein weiteres Manko an: Es würden massenhaft retrospektiv – also rückblickend – Daten erhoben, die wenig aussagekräftig seien. Erst wenn ein Corona-Test positiv ist, beginnt die Datensammelei, statt prospektiv – also vorausschauend – Kohortenstudien mit Zufallsstichproben durchzuführen. „Entweder sind Informationen überhaupt nicht verfügbar oder höchstwahrscheinlich aufgrund ungeeigneter Verfahren verzerrt“, sagt Schnell.
Erfasst werden schließlich immer nur die Fälle, in denen Symptome auftreten oder der Hausarzt eine Infektion identifiziert. Das anhand dieser Daten erhobene Bild ist unvollständig. „Wir wissen nichts von denen, die gar nicht wissen, dass sie infiziert sind“, sagt der Methodiker. Das verzerrt das Ergebnis. Die offiziell täglich mitgeteilte Zahl der Infektionen sei darum nicht mehr als eine voreingenommene Schätzung. „Wir wissen nichts darüber, wie viele Infektionsfälle wir wirklich in der Bevölkerung haben“, sagt auch Zeeb.
Aus prospektiv geplanten Kohortenstudien könnte man hingegen aussagekräftige Ergebnisse ableiten. Denn sie beziehen Zufallsstichproben aus der breiten Bevölkerung, also aus allen Gesellschaftsschichten und Altersgruppen, ein. Man würde dann beispielsweise auch Personen testen, die symptomlos sind und so Daten zu Infektion und Infektionswegen sammeln, die derzeit einfach ignoriert würden. Ebenso wie die Daten Infizierter, die aufgrund milder Symptome nie einen Corona-Test gemacht haben.
„Bereits im März 2020 haben wir unter anderem dem Bundesgesundheitsministerium und dem RKI vier Zufallsstudien vorgeschlagen“, sagt Schnell. Sie zielten darauf ab, valide Ergebnisse zu Infektionszahlen in der Bevölkerung zu erhalten, das Fortschreiten von Erkrankungen systematisch zu erfassen, durch pathologisch bestimmte Proben zu sehen, wie hoch der Prozentsatz derer ist, die an oder mit Corona gestorben sind, sowie Daten zu sozialen Auswirkungen der Pandemie zu erfassen. Dazu kam es seiner Meinung nach aus politischen Gründen nicht.
Vor der Öffnung der Schulen wäre es aus Sicht des Bremer Präventionsforschers sinnvoll gewesen, prospektiv Daten zu erheben, indem regelmäßige serielle Testungen in den Schulen durchgeführt würden. „Österreich hat das zum Beispiel gemacht, und auch hier haben das Wissenschaftler vielfach vorgeschlagen“, sagt Zeeb. Dennoch bleibe die Umsetzung aus. Um die Orte der Ansteckung sichtbar zu machen, ist das nach Auffassung der Experten ein Versäumnis. Man werde in Anbetracht der neuen, vermutlich ansteckenderen Mutationen, nicht überall gut geplanter Transportwege zur Schule und Unterschreitung von Abständen zwischen den Schülern vermutlich in der Altersgruppe steigende Infektionszahlen sehen. „Doch Studiendaten werden auch dann erst zu einem Zeitpunkt vorliegen, zu dem wir sie nicht mehr brauchen werden“, sagt Schnell.