Rheinische Post - Geldern an Kevelaer
Der Wächter am Bosporus
Yörük Isik beobachtet mit seiner Kamera auf Fähren durch die Meerenge von Istanbul Weltgeschichte und kann von dort sogar in die Zukunft sehen.
Ein Fährschiff gleitet an die Mole von Rumeli Kavagi, die letzte Anlegestelle am europäischen Ufer des Bosporus. Der Matrose wirft das Tau nur locker um den Poller, denn die Fähre wird gleich wieder zur Rückfahrt ablegen. Yörük Isik beeilt sich, an Land zu kommen – nur um dort seine Fahrkarte ins Drehkreuz zu stecken und sofort wieder an Bord zu klettern. Isik ist praktisch Stammgast auf den Bosporus-Fähren, doch er versäumt es nie, die etwa 50 Cent zu bezahlen, die eine Fahrt über den Bosporus kostet – einmal vom Marmarameer bis zum Schwarzen Meer oder umgekehrt. Man bedenke, was er für das Fahrtgeld bekomme, sagt der vierschrötige Mittvierziger, während er keuchend die enge Schiffstreppe erklimmt und sich an der Reling postiert: Von hier aus könne er beobachten, was in der Welt geschieht – und was geschehen wird. Die Weltläufe seien von dieser Reling aus zu sehen. Man müsse sie nur erkennen und verstehen.
Isik ist dafür gut ausgerüstet. Warm eingepackt gegen den eisigen Seewind, trägt er um den Hals gehängt eine Kamera mit ellenlangem Objektiv, um die vorbeifahrenden Schiffe in der Meerenge heranzoomen zu können. In der Hand hält er ein Smartphone mit einer App zur Satellitenverfolgung von Schiffen, die er sogleich öffnet, um das nächste Schiff zu identifizieren, bevor es in Sicht kommt. „Hier sind wir, und da kommt das Schiff – die ‚General Aslanow‘, ein Frachter unter aserbaidschanischer Flagge“, erklärt er die Grafik auf dem kleinen Bildschirm, bevor er die Kamera hebt und das herannahende Schiff ins Objektiv nimmt. „Wahrscheinlich ein normaler Frachter, aber ich mache mal ein Foto – man kann nie wissen.“
Aus seinen detaillierten Nahaufnahmen von Schiffen auf dem Bosporus hat Isik schon viel erfahren, zum Beispiel welche neuen Radaroder Waffensysteme die russische Kriegsmarine eingeführt hat. Was er erfährt, vermeldet er auf Twitter, wo ihm gleichgesinnte Enthusiasten rings um das Schwarze Meer und am Mittelmeer folgen und ihre eigenen Informationen teilen. Aus seinen Fotos, den Satellitendaten und diesen Twitter-Meldungen kann Isik sich ein Bild davon machen, was die Schiffe und die Staaten der Region im Schilde führen. „Open Source Intelligence“– geheimdienstliche Information aus offenen Quellen – nennt sich das, kurz Osint, und es funktioniert wie ein Mosaik: Aus vielen einzelnen Beobachtungen entsteht ein neues Bild.
Was sich auf dem Bosporus abspielt, hat Auswirkungen weit über diese Weltregion hinaus – und wenn es nur das Wetter ist: Wenn Nebel über dem Bosporus hängt und die Meerenge für die Schifffahrt gesperrt werden muss, dann steigen weltweit die Weizen- und die Ölpreise, weil die Fracht ausbleibt. 50.000 Schiffe fahren jährlich durch den Bosporus, und jedes Schiff hat eine Geschichte. „Die meisten sind ehrbare Handelsschiffe, aber fast täglich fährt auch ein abenteuerlicheres Schiff durch, das vielleicht etwas Illegales geladen hat, irgendwelche Gesetzeslücken nutzt oder aus anderen Gründen nicht auffallen will“, erzählt Isik. „Ihren Geschichten spüre ich nach.“
Von Spionage und Waffenschmuggel
bis zu Umweltsünden und Tierquälerei reichen die Geschichten, denen Isik am Bosporus auf die Spur kommt. „Wir sehen hier also ein Schiff, und wir sehen einen Container darauf“, erklärt Isik den Prozess am Beispiel von Handfeuerwaffen, die in Osteuropa hergestellt und von manchen Staaten in ihren Stellvertreterkriegen im Nahen Osten eingesetzt werden. „Wir können den Container verfolgen und feststellen, dass er in einem Hafen in Saudi-Arabien umgeladen wird auf ein anderes Schiff, das in den Jemen fährt.“Aus ihren Fotos, Meldungen und Satellitendaten könnten die Osint-Beobachter die Fährte einer Waffe von Serbien oder Bulgarien bis zum Einsatz im Jemen oder in Syrien lesen.
Isik und seine Osint-Gemeinde sind dadurch über aktuelle Entwicklungen der internationalen Politik oft schon früher im Bilde als Politiker und Diplomaten in den Hauptstädten der Welt. „Dass Russland Venezuela gegen die amerikanischen Sanktionen beistehen würde, wussten wir schon lange, bevor das russische Außenministerium es bekannt gegeben hat – weil wir ein mit Weizen beladenes Schiff aus Noworossisk nach Venezuela fahren sahen“, erzählt Isik. „Wir wussten auch als Erste, dass Russland in Syrien militärisch intervenieren würde.“Lange bevor das öffentlich wurde, beobachtete die Osint-Gemeinde, dass russische Schiffe militärisches Gerät nach Syrien brachten.
„Ja, indem man hier einfach auf einer Passagierfähre sitzt und die Augen aufhält, kann man nicht nur analysieren, was in der Welt geschieht, sondern auch vorhersagen, was geschehen wird“, sagt Isik. Eigentlich könnte das jeder machen, meint er – er selbst betreibt es neben seinem Beraterberuf als Hobby, und die Kosten beschränken sich auf die Fahrkarte. Und dennoch gleiten die Schiffe mit ihren weltpolitisch sensationellen Geschichten fast unbemerkt mitten durch Istanbul; kaum einer der 16 Millionen Einwohner sieht richtig hin. Und mehr noch: Manche dienen selbst als Quellen, ohne es zu merken.
„Wir lachen oft darüber“, sagt Isik: Haben er und seine Freunde einmal ein Schiff verpasst, für das sie sich interessieren, dann müssen sie nur Instagram nach Fotos durchsuchen, die zur fraglichen Zeit im fraglichen Abschnitt des Bosporus hochgeladen wurden – und schon haben sie die gewünschten Informationen. „Im Vordergrund der Bilder sieht man dann etwa Leute mit Bierflaschen, eine Verlobungsfeier oder Kinder – und im Hintergrund finden wir das gesuchte Schiff“, erzählt der Schiffsexperte. „Das ist so wie mit diesen lustigen Bildern, wo man hinter lachenden Schwimmern einen riesigen Haifisch auftauchen sieht“, sagt er. „Aber hier in Istanbul ist es wirklich so – da amüsieren sich die Leute am Ufer und merken nicht, wie hinter ihnen Weltgeschichte passiert.“
Denn Weltgeschichte ist es tatsächlich, was da durch die Meerenge kommt – zum Beispiel aus Russland, für das der Bosporus als Tor zum Mittelmeer strategisch wichtig ist. Nicht nur Waffentransporte und Kriegsschiffe aus seiner Schwarzmeerflotte schickt Russland durch Istanbul ins Mittelmeer, sondern neuerdings auch U-Boote. Schon heute sei Russland eine Mittelmeermacht, sagt Isik und erinnert an die Moskauer Abkommen mit dem syrischen Regime, die Russland einen Hafen und einen Luftwaffenstützpunkt in Syrien verschafft haben: „Mit ihren Stützpunkten in Tartus und Latakia sind sie ganz nah an Zypern und bereits direkte Nachbarn der EU.“
Durch den Bosporus pirsche sich Russland nun immer näher an Europa heran, meint Isik. „Russland wartet jetzt nur auf eine Gelegenheit, um mit einem ähnlichen Deal einen Stützpunkt in Libyen zu etablieren – und damit kommen sie dann wieder einen Schritt weiter nach Westen“, sagt der Beobachter. „Wenn sie erst in Libyen sind, dann stehen sie auf der Schwelle des EU-Kerngebiets – das wird ihnen die Tür öffnen.“Und was in Libyen geschieht, das habe immense Bedeutung für die EU, schon als Drehkreuz für den Menschenschmuggel nach Europa. „Ein Stützpunkt in Libyen wird Russland von der Mittelmeermacht zu einer führenden Mittelmeermacht machen“, prophezeit Isik.
Die Fähre gleitet am Sommerpalais des türkischen Staatspräsidenten vorbei, einer Villa aus dem 19. Jahrhundert, die einst dem Vertreter des deutschen Rüstungskonzerns Krupp im Osmanischen Reich gehörte. Isik zeigt auf das Palais am Ufer: Den Bosporus zu befahren, sei wie eine Zeitreise, sagt er, und zwar auf mehreren Zeitschienen zugleich. „Wir sind hier auf dem Bosporus und sprechen über Russland und Waffen, und genau wo wir jetzt sind, am Bosporus und am Palais des deutschen Waffenhändlers, da wurde im 19. Jahrhundert schon über die gleichen Themen geredet.“
Tröstlich finde er das, sagt Isik, denn es verleihe der Tagespolitik eine historische Perspektive über die eigene Lebenszeit hinaus. „Diese Stadt und diese Meerenge waren lange vor uns da, und sie werden auch lange nach uns noch hier sein“, sagt der Bosporus-Beobachter. „Ich mag dieses Gefühl der Koexistenz mit Vergangenheit und Zukunft – ich finde, es befreit uns von der Gegenwart.“