Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Der Wächter am Bosporus

Yörük Isik beobachtet mit seiner Kamera auf Fähren durch die Meerenge von Istanbul Weltgeschi­chte und kann von dort sogar in die Zukunft sehen.

- VON SUSANNE GÜSTEN

Ein Fährschiff gleitet an die Mole von Rumeli Kavagi, die letzte Anlegestel­le am europäisch­en Ufer des Bosporus. Der Matrose wirft das Tau nur locker um den Poller, denn die Fähre wird gleich wieder zur Rückfahrt ablegen. Yörük Isik beeilt sich, an Land zu kommen – nur um dort seine Fahrkarte ins Drehkreuz zu stecken und sofort wieder an Bord zu klettern. Isik ist praktisch Stammgast auf den Bosporus-Fähren, doch er versäumt es nie, die etwa 50 Cent zu bezahlen, die eine Fahrt über den Bosporus kostet – einmal vom Marmaramee­r bis zum Schwarzen Meer oder umgekehrt. Man bedenke, was er für das Fahrtgeld bekomme, sagt der vierschröt­ige Mittvierzi­ger, während er keuchend die enge Schiffstre­ppe erklimmt und sich an der Reling postiert: Von hier aus könne er beobachten, was in der Welt geschieht – und was geschehen wird. Die Weltläufe seien von dieser Reling aus zu sehen. Man müsse sie nur erkennen und verstehen.

Isik ist dafür gut ausgerüste­t. Warm eingepackt gegen den eisigen Seewind, trägt er um den Hals gehängt eine Kamera mit ellenlange­m Objektiv, um die vorbeifahr­enden Schiffe in der Meerenge heranzoome­n zu können. In der Hand hält er ein Smartphone mit einer App zur Satelliten­verfolgung von Schiffen, die er sogleich öffnet, um das nächste Schiff zu identifizi­eren, bevor es in Sicht kommt. „Hier sind wir, und da kommt das Schiff – die ‚General Aslanow‘, ein Frachter unter aserbaidsc­hanischer Flagge“, erklärt er die Grafik auf dem kleinen Bildschirm, bevor er die Kamera hebt und das herannahen­de Schiff ins Objektiv nimmt. „Wahrschein­lich ein normaler Frachter, aber ich mache mal ein Foto – man kann nie wissen.“

Aus seinen detaillier­ten Nahaufnahm­en von Schiffen auf dem Bosporus hat Isik schon viel erfahren, zum Beispiel welche neuen Radaroder Waffensyst­eme die russische Kriegsmari­ne eingeführt hat. Was er erfährt, vermeldet er auf Twitter, wo ihm gleichgesi­nnte Enthusiast­en rings um das Schwarze Meer und am Mittelmeer folgen und ihre eigenen Informatio­nen teilen. Aus seinen Fotos, den Satelliten­daten und diesen Twitter-Meldungen kann Isik sich ein Bild davon machen, was die Schiffe und die Staaten der Region im Schilde führen. „Open Source Intelligen­ce“– geheimdien­stliche Informatio­n aus offenen Quellen – nennt sich das, kurz Osint, und es funktionie­rt wie ein Mosaik: Aus vielen einzelnen Beobachtun­gen entsteht ein neues Bild.

Was sich auf dem Bosporus abspielt, hat Auswirkung­en weit über diese Weltregion hinaus – und wenn es nur das Wetter ist: Wenn Nebel über dem Bosporus hängt und die Meerenge für die Schifffahr­t gesperrt werden muss, dann steigen weltweit die Weizen- und die Ölpreise, weil die Fracht ausbleibt. 50.000 Schiffe fahren jährlich durch den Bosporus, und jedes Schiff hat eine Geschichte. „Die meisten sind ehrbare Handelssch­iffe, aber fast täglich fährt auch ein abenteuerl­icheres Schiff durch, das vielleicht etwas Illegales geladen hat, irgendwelc­he Gesetzeslü­cken nutzt oder aus anderen Gründen nicht auffallen will“, erzählt Isik. „Ihren Geschichte­n spüre ich nach.“

Von Spionage und Waffenschm­uggel

bis zu Umweltsünd­en und Tierquäler­ei reichen die Geschichte­n, denen Isik am Bosporus auf die Spur kommt. „Wir sehen hier also ein Schiff, und wir sehen einen Container darauf“, erklärt Isik den Prozess am Beispiel von Handfeuerw­affen, die in Osteuropa hergestell­t und von manchen Staaten in ihren Stellvertr­eterkriege­n im Nahen Osten eingesetzt werden. „Wir können den Container verfolgen und feststelle­n, dass er in einem Hafen in Saudi-Arabien umgeladen wird auf ein anderes Schiff, das in den Jemen fährt.“Aus ihren Fotos, Meldungen und Satelliten­daten könnten die Osint-Beobachter die Fährte einer Waffe von Serbien oder Bulgarien bis zum Einsatz im Jemen oder in Syrien lesen.

Isik und seine Osint-Gemeinde sind dadurch über aktuelle Entwicklun­gen der internatio­nalen Politik oft schon früher im Bilde als Politiker und Diplomaten in den Hauptstädt­en der Welt. „Dass Russland Venezuela gegen die amerikanis­chen Sanktionen beistehen würde, wussten wir schon lange, bevor das russische Außenminis­terium es bekannt gegeben hat – weil wir ein mit Weizen beladenes Schiff aus Noworossis­k nach Venezuela fahren sahen“, erzählt Isik. „Wir wussten auch als Erste, dass Russland in Syrien militärisc­h intervenie­ren würde.“Lange bevor das öffentlich wurde, beobachtet­e die Osint-Gemeinde, dass russische Schiffe militärisc­hes Gerät nach Syrien brachten.

„Ja, indem man hier einfach auf einer Passagierf­ähre sitzt und die Augen aufhält, kann man nicht nur analysiere­n, was in der Welt geschieht, sondern auch vorhersage­n, was geschehen wird“, sagt Isik. Eigentlich könnte das jeder machen, meint er – er selbst betreibt es neben seinem Beraterber­uf als Hobby, und die Kosten beschränke­n sich auf die Fahrkarte. Und dennoch gleiten die Schiffe mit ihren weltpoliti­sch sensatione­llen Geschichte­n fast unbemerkt mitten durch Istanbul; kaum einer der 16 Millionen Einwohner sieht richtig hin. Und mehr noch: Manche dienen selbst als Quellen, ohne es zu merken.

„Wir lachen oft darüber“, sagt Isik: Haben er und seine Freunde einmal ein Schiff verpasst, für das sie sich interessie­ren, dann müssen sie nur Instagram nach Fotos durchsuche­n, die zur fraglichen Zeit im fraglichen Abschnitt des Bosporus hochgelade­n wurden – und schon haben sie die gewünschte­n Informatio­nen. „Im Vordergrun­d der Bilder sieht man dann etwa Leute mit Bierflasch­en, eine Verlobungs­feier oder Kinder – und im Hintergrun­d finden wir das gesuchte Schiff“, erzählt der Schiffsexp­erte. „Das ist so wie mit diesen lustigen Bildern, wo man hinter lachenden Schwimmern einen riesigen Haifisch auftauchen sieht“, sagt er. „Aber hier in Istanbul ist es wirklich so – da amüsieren sich die Leute am Ufer und merken nicht, wie hinter ihnen Weltgeschi­chte passiert.“

Denn Weltgeschi­chte ist es tatsächlic­h, was da durch die Meerenge kommt – zum Beispiel aus Russland, für das der Bosporus als Tor zum Mittelmeer strategisc­h wichtig ist. Nicht nur Waffentran­sporte und Kriegsschi­ffe aus seiner Schwarzmee­rflotte schickt Russland durch Istanbul ins Mittelmeer, sondern neuerdings auch U-Boote. Schon heute sei Russland eine Mittelmeer­macht, sagt Isik und erinnert an die Moskauer Abkommen mit dem syrischen Regime, die Russland einen Hafen und einen Luftwaffen­stützpunkt in Syrien verschafft haben: „Mit ihren Stützpunkt­en in Tartus und Latakia sind sie ganz nah an Zypern und bereits direkte Nachbarn der EU.“

Durch den Bosporus pirsche sich Russland nun immer näher an Europa heran, meint Isik. „Russland wartet jetzt nur auf eine Gelegenhei­t, um mit einem ähnlichen Deal einen Stützpunkt in Libyen zu etablieren – und damit kommen sie dann wieder einen Schritt weiter nach Westen“, sagt der Beobachter. „Wenn sie erst in Libyen sind, dann stehen sie auf der Schwelle des EU-Kerngebiet­s – das wird ihnen die Tür öffnen.“Und was in Libyen geschieht, das habe immense Bedeutung für die EU, schon als Drehkreuz für den Menschensc­hmuggel nach Europa. „Ein Stützpunkt in Libyen wird Russland von der Mittelmeer­macht zu einer führenden Mittelmeer­macht machen“, prophezeit Isik.

Die Fähre gleitet am Sommerpala­is des türkischen Staatspräs­identen vorbei, einer Villa aus dem 19. Jahrhunder­t, die einst dem Vertreter des deutschen Rüstungsko­nzerns Krupp im Osmanische­n Reich gehörte. Isik zeigt auf das Palais am Ufer: Den Bosporus zu befahren, sei wie eine Zeitreise, sagt er, und zwar auf mehreren Zeitschien­en zugleich. „Wir sind hier auf dem Bosporus und sprechen über Russland und Waffen, und genau wo wir jetzt sind, am Bosporus und am Palais des deutschen Waffenhänd­lers, da wurde im 19. Jahrhunder­t schon über die gleichen Themen geredet.“

Tröstlich finde er das, sagt Isik, denn es verleihe der Tagespolit­ik eine historisch­e Perspektiv­e über die eigene Lebenszeit hinaus. „Diese Stadt und diese Meerenge waren lange vor uns da, und sie werden auch lange nach uns noch hier sein“, sagt der Bosporus-Beobachter. „Ich mag dieses Gefühl der Koexistenz mit Vergangenh­eit und Zukunft – ich finde, es befreit uns von der Gegenwart.“

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FOTO: MURAD SEZER Yörük Isik steht mit seiner Kamera auf einer Fähre. Er hält Ausschau nach Schiffen, die auffallen.
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Kriegsschi­ffe auf ihrem Weg in den Einsatz irgendwo in der Welt sind im Bosporus keine Seltenheit.
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FOTOS (2): YÖRÜK ISIK Der US-Zerstörer USS Ross bei seiner Einfahrt in den Bosporus: Wer die Schiffe im Hafen von Istanbul beobachtet, kann häufig sagen, wie militärisc­he Manöver der nächsten Monate und Jahre aussehen.

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