Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

„Londons Krisenmana­gement ist weniger hektisch“

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Die britische Botschafte­rin und der Europamini­ster über 75 Jahre Freundscha­ft zwischen dem Königreich und NRW.

Wie sehr ist Ihnen derzeit überhaupt nach Festivität­en zu 75 Jahren Freundscha­ft zwischen NRW und Großbritan­nien zumute? GALLARD Unbestritt­en stehen wir mit dem Brexit und Corona vor einer schwierige­n Situation. Es ist daher wichtig, dass wir unseren Blick in die Zukunft richten. Ich freue mich sehr darauf, in NRW zu sein. Vor vier Monaten war mein Amtsantrit­t in Berlin. Statt zu reisen und das Land kennenzule­rnen, muss ich mich überwiegen­d mit

Videokonfe­renzen begnügen. Scherzhaft könnte man sagen, ich bin die britische Botschafte­rin im Grunewald. Umso schöner, dass ich hier sein kann. NRW und Großbritan­nien verbindet eine lange, intensive Geschichte. Ich würde gerne meinen Beitrag dazu leisten, ein neues Kapitel in unseren Beziehunge­n aufzuschla­gen. HOLTHOFF-PFÖRTNER Nur auf die jüngsten Probleme zu schauen, wäre zu kurz gesprungen. Wir verdanken den Briten enorm viel. Für mich war es ein unvorstell­bares Glück, dass ich in Freiheit großgeword­en bin und nicht, wie viele Gleichaltr­ige, in der DDR in einer kommunisti­schen Diktatur. Reisefreih­eit, Meinungsfr­eiheit – all das verdanken wir den einstigen Besatzungs­mächten.

Trotzdem liegt der Brexit wie ein Schatten über dieser Beziehung. Wie hat der Austritt aus der EU die Sicht von Deutschen und Briten aufeinande­r verändert?

GALLARD Ich verstehe, dass das Ergebnis des Referendum­s eine große Enttäuschu­ng für viele Deutsche war. Aber es war eine demokratis­che Entscheidu­ng. Premier Johnson hat oft betont: „Wir verlassen zwar die EU, aber nicht Europa.“Ich glaube, dass die aktuellen Krisen – also Covid und der Klimawande­l – unsere Beziehung noch stärker fordern, aber auch stärken werden.

Gehen wir Deutschen zu kritisch mit der Brexit-Entscheidu­ng um? HOLTHOFF-PFÖRTNER Wir haben die Entscheidu­ng des Vereinigte­n Königreich­s zu akzeptiere­n. Aber wir müssen aufpassen, dass sich die Dinge nicht verselbsts­tändigen. 2015 betrug der Export von NRW nach Großbritan­nien 14 Milliarden Euro. Aber allein die Brexit-Diskussion hat ihn bis 2019 um fast vier Milliarden Euro zurückgehe­n lassen. Es ist an uns, diesen Gegenwind in Rückenwind zu verwandeln, damit der Handel wieder Schwung bekommt. Denn: Es gibt ja durchaus auch Freundscha­ften nach einer Scheidung.

Durch den Wegfall des Erasmus-Programms bekommen die europäisch­en Studenten Probleme, wenn sie in Großbritan­nien studieren wollen. Was tun? HOLTHOFF-PFÖRTNER Manchmal muss man mit seiner Zuneigung auch lästig werden. Das haben wir vor. Unser großes Vorbild dafür ist das deutsch-französisc­he Jugendwerk. Sollte der Studenten- und Schüleraus­tausch tatsächlic­h nachlassen, werden wir Strukturen schaffen, die das ausgleiche­n. Man versteht einander am besten, wenn man sich in jungen Jahren kennenlern­t. Viele

meiner Freunde sind in ihrer Jugend ins britische Internat gegangen oder haben dort studiert. Das prägt. Die sind bis heute very British. Im allerbeste­n Sinne.

GALLARD Mehr als 80 Prozent der Politiker hier in Deutschlan­d, mit denen ich mich ausgetausc­ht habe, hatten einen Bezug zu Großbritan­nien, haben dort studiert oder gelebt. Das ist Ansporn für mich, dass wir diesen Studentena­ustausch fortsetzen müssen – wenn auch nicht mehr im Rahmen des Erasmus-Programms. Wir werden neue Systeme finden, etwa direkte Kooperatio­nen zwischen Universitä­ten und Schulen. Ich bin optimistis­ch, dass wir mit Hilfe von NRW einen Weg finden werden.

Die Politik muss Rahmenbedi­ngungen schaffen, damit Warenausta­usch und Lieferkett­en funktionie­ren. In der Wirtschaft herrscht große Sorge vor Handelsbar­rieren. GALLARD Allen Beteiligte­n ist bewusst, wie wichtig es ist, dass die Wirtschaft­sbeziehung­en weiter funktionie­ren. Es gibt 1400 britische Unternehme­n in NRW, mit Konzernen wie Vodafone und HSBC. Wäre NRW ein eigenständ­iges Land, wäre es unser zehntwicht­igster Handelspar­tner. Das bedeutet, dass diese enge Zusammenar­beit fortgesetz­t werden muss. Wir sind erst im dritten Monat nach Auslaufen der Übergangsp­hase. Da wird sich noch vieles finden.

Der Warenverke­hr war Ende 2020 gestört, als die Franzosen den Eurotunnel gesperrt haben. Ein Fehler?

HOLTHOFF-PFÖRTNER Die Maßnahme hört sich zwar nach hartem Durchgreif­en an, schön martialisc­h, aber sie bietet keine Lösung. Es geht darum, dass wir miteinande­r über wirksame Antworten reden. Ein Beispiel für ein solches Format ist die „Cross-Border Taskforce Corona“mit den Niederland­en und Belgien. NRW hat in der gesamten Pandemie großen Wert darauf gelegt, Grenzen offenzuhal­ten. Bei dieser Haltung bleiben wir. Wer Grenzen für Menschen schließt, kann sie auch für Waren nicht offenhalte­n. Eine Herdenimmu­nisierung erreicht man übrigens nur, wenn man eine ganze Herde immunisier­t. Da kann man nicht bestimmte Menschen ausgrenzen.

Das heißt, Deutschlan­d müsste in einem ähnlichen Fall auf Frankreich einwirken? HOLTHOFF-PFÖRTNER Ich hatte ein Gespräch mit dem Leiter des Eurotunnel­s auf französisc­her Seite. Das panikartig­e Schließen war durch die Angst getrieben, nicht klarzukomm­en. Die Betreiber haben niemals daran gedacht, dass der Tunnel eine Außengrenz­e sein könnte. Wir haben das Problem mit der Mutation noch nicht gelöst. Aber Grenzschli­eßungen sind eindeutig der falsche Weg.

GALLARD Covid ist eine Herausford­erung für uns alle. Natürlich hat uns die Grenzschli­eßung schockiert, wir Briten sind ja starke Verfechter des Freihandel­s. Gleichzeit­ig

verstehen wir alle, dass Länder Maßnahmen ergreifen müssen, um ihre Bürger vor der Pandemie zu schützen. Durch die frühere Zulassung von Astrazenec­a stehen wir im Übrigen derzeit recht gut da. 20 Millionen Briten wurden bereits geimpft. Ich glaube nicht, dass wir alle Antworten rund um die Pandemiebe­kämpfung haben, denn am Ende sind wir alle Lernende. Wir müssen alle zusammenar­beiten. Nicht nur in Europa. Wir müssen stärker auch darüber sprechen, wie wir den Entwicklun­gsländern bei der Pandemiebe­kämpfung helfen können.

Wie groß ist denn der Neid bei Ihnen auf die Briten in Sachen Impfkampag­ne?

Die behäbige EU scheint gegenüber dem wendigen Nationalst­aat das Nachsehen zu haben.

HOLTHOFF-PFÖRTNER Die großen Erfolge in Großbritan­nien freuen mich. Da bin ich frei von Neid. Wir haben nach einem starken Start in der Pandemiebe­kämpfung sehr stark nachgelass­en. Wir müssen daraus lernen. Wir müssen die Fehler aufarbeite­n und schauen, was wir in Europa besser machen können.

Was können sich die Deutschen vom britischen Krisenmana­gement abschauen? HOLTHOFF-PFÖRTNER Es scheint weniger hektisch zu sein. Wenn ich mir die Pläne des Premiermin­isters ansehe, dann denkt er in Fünf-Wochen-Schritten. Wenn ein Ministerpr­äsident mit solchen Zeiträumen in Bund-Länder-Gespräche geht, überlebt er das nicht. Diese britische Ruhe bei der Bekämpfung ist schon beeindruck­end.

Herr Minister, Ihr Wunsch für das deutsch-britische Verhältnis? HOLTHOFF-PFÖRTNER Ich wünsche mir, dass wir diese Brexit-Diskussion hinter uns lassen. Wir bleiben Nachbarn und Freunde. GALLARD Der Prinz von Wales hat gesagt, dass uns mehr verbindet, als uns trennt. Großbritan­nien ist klar, dass Multilater­alismus und Bilaterali­smus die Zukunft sind. Und ich freue mich sehr, dass die deutsche Regierung und die Regierung in NRW bereit sind, diese Zusammenar­beit fortzusetz­en. HOLTHOFF-PFÖRTNER Und: Ich kann mir auch eine europäisch­e Weltpoliti­k ohne London nicht vorstellen. Das gilt für Sicherheit, das gilt für die Uno, G7 und die Nato. Großbritan­nien hat so eine weltpoliti­sche Erfahrung, wir wären verrückt, wenn wir die nicht berücksich­tigen würden.

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FOTO: ROLF VENNENBERN­D/DPA Stephan Holthoff-Pförtner (CDU) ist Europamini­ster des Landes NRW.
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FOTO: BRITTA PEDERSEN/DPA Jill Gallard ist Botschafte­rin des Vereinigte­n Königreich­s in Deutschlan­d.

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