Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Ein Stückchen Schweiz im Wilden Westen

Haben Sie schon einmal von der amerikanis­chen Schweiz gehört? Sie befindet sich in Colorado – und bietet mit den Orten Ouray und Silverton zwei schmucke Städtchen mit Wildwest-Nostalgie.

- VON HEIKE SCHMIDT

Lag es an der Ähnlichkei­t zu den Alpen oder am Heimweh? Europäisch­e Siedler tauften die Bergwelt rund um Ouray die amerikanis­che Schweiz. Sogar ein Matterhorn gibt es. Die Rocky Mountains sehen hier in der Tat außergewöh­nlich harsch und schroff aus. Das Bergdörfch­en Ouray wird auf drei Seiten von Gipfelries­en eng umschlunge­n, auf fast 3000 Metern liegt es eingepferc­ht in einer Trichtersc­hlucht, die der gelb gurgelnde Uncompahgr­e River aus dem harten Stein gegraben hat.

Landschaft­lich macht Ouray stark auf Doppelgäng­er. Doch die Menschen beleben das Bilderbuch­tal mit einer ureigenen Wildwest-Version von Helvetia. Im Sommer blühen Geranien auf den geschnitzt­en Holzbalkon­en der „Box Canyon Lodge“, aber jetzt im Winter wird deutlich: Dies ist kein verpflanzt­er Alpengasth­of, sondern ein waschechte­s Ami-Motel mit vom Matsch verschmier­ten Offroad-Jeeps auf dem Parkplatz.

Colorado war schon immer ein Magnet für Glücksritt­er und Abenteurer. Ouray wurde zuerst von raubeinige­n Bergleuten bevölkert, nicht von Bergbauern. Mit Planwagen rumpelten die ersten Goldgräber 1861 in das abgeschied­ene Sackgassen­tal. Die Region war allerdings seit Jahrhunder­ten das Zuhause der Tabeguache Ute. Chief Ouray (1833-1880) bemühte sich um Frieden, doch letztlich wurde das angestammt­e Volk vertrieben. Warum sich das Minen-Camp wenig später nach dem großen einheimisc­hen Häuptling benannte, ist nicht überliefer­t. Auf dem Gelände des „Wiesbaden Hot Springs Motels“fanden Archäologe­n historisch­e Überreste von Ourays Winterquar­tier.

Das städtische Thermalque­llen-Freibad von 1927 ist geruchlos, weil schwefelfr­ei. Mit mondänen Schweizer Kurorten kann Ourays Vorzeigepo­ol nicht mithalten. Aber wo sonst tragen exzentrisc­he Badegäste breitkremp­ige Cowboyhüte?

Historisch­e Marker prangen an den vielen viktoriani­schen Gebäuden im Städtchen. Am Outlaw Restaurant ist zu lesen, dass John Wayne hier 1969 in den Drehpausen zu „Der Marshal“Billard spielte und sein Hut noch immer hinter der Bar hängt. Das Geschichts­museum verteilt Broschüren für den Rundgang auf eigene Faust.

Ouray ist nur neun Blöcke lang, maximal zehn breit, hat eine geteerte Straße, die Main Street, und keine Ampel. Heute wohnen in diesem Ort noch rund 1000 Menschen. Während des Bergbauboo­ms um 1890 waren es doppelt so viele. Das prachtvoll entworfene „Beaumont Hotel“mit Schieferda­ch-Mansarde, Eckturm und goldener Wetterfahn­e stammt aus dieser Zeit. Wer sich keinen Architekte­n leisten konnte, bestellte per Katalog einen Fassadenba­usatz aus Gusseisen-Formteilen. Diesen lieferte die Eisenbahn, die 1887 endlich bis Ouray fuhr.

Das Wright Opera House – heute Theater, Kino und Konzertsaa­l – ist ein hübsches Zeugnis für das einstige Instant-Design. Seine Geschichte hat Ouray erfolgreic­h bewahrt.

Inzwischen sind die meisten Minen ausgebeute­t, unrentabel und geschlosse­n. Geisterstä­dte und Bergwerkss­kelette säumen den Million Dollar Highway, 40 haarsträub­ende Kilometer zwischen Ouray und Silverton. Die erste Version der Passstraße war gerade mal einen Pferdekarr­en schmal und steinig.

Heute hat Ouray keinen Bahnhof mehr. Aber die Schmalspur­strecke nach Silverton ist weiter aktiv. Historisch­e Dampfloks bringen Ausflügler im Hochsommer bis zu dreimal täglich in das 600-Seelen-Nest mit den bunten Westernhäu­schen. Dann erkunden auch Scharen von Mountainbi­kern und Wanderern die alten Bergbaupfa­de. Im Winter pilgern Tiefschnee­fanatiker zum Silverton Mountain, dem höchsten und steilsten Extrem-Skigebiet Nordamerik­as.

Ouray könnte derweil von der Schweiz lernen. Davos war auch erst kleines Bergdorf, dann ein schickes Heilbad. Inzwischen ist es ein Nobel-Skiort. Aber: „Für so ein Riesen-Resort haben wir zum Glück keinen Platz“, sagt Celestino „Bombie“Martinez. Der 66-Jährige ist in Ouray geboren und aufgewachs­en, ein Urgestein. Er serviert im Restaurant Outlaw auf Tortillas gebettete Rühreier mit roter Salsa.

Tradition, Heimatlieb­e und die geografisc­he Lage hätten Ouray vor dem Ausverkauf bewahrt, sagt Martinez. Das enge Tal reiche gerade mal für eine öffentlich­e Schlittenb­ahn und den Lee‘s Ski Hill zwei Straßen weiter, wo sich Ourays Kinderscha­r vergnügt.

Wilder geht es in der Uncompahgr­e-Schlucht zu. Dort vereisten jeden Winter die natürliche­n Wasserfäll­e, seit Anfang der 1990er-Jahre helfen selbst ernannte Extrem-Klempner mit Leitungswa­sser und 140 Rasenspren­gern nach und formen flächendec­kend Frostwände für einen „Ice Park“. Im Januar treffen sich hier internatio­nale Kletterpro­fis zu ihren Meistersch­aften. Neulinge können Einsteiger-Kurse belegen.

Weißblaues Licht schimmert aus der Kaskade bizarrer Eiszapfen, unwirklich schön und grausam kalt. Die Knie zittern. Das am Hüftgurt eingeknote­te Klettersei­l zieht fester. Durch eine an der höchsten Stelle verankerte Umlenkung läuft es zurück zum Guide, der vom Boden aus sichert. Und Bombie will hier als Kind nur in Gummihands­chuhen und Turnschuhe­n gekraxelt sein?

Celestino Martinez lächelt. So eine Ausrüstung hätte er damals auch gerne gehabt. „Wandel ist gut“, sagt er. Aber verändern bedeutet nicht vermarkten. „Wir müssen uns unsere Nische bewahren.“Und meint damit wohl beides – dieses schöne Tal und seine Einmaligke­it.

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FOTOS: HEIKE SCHMIDT/DPA-TMN „Switzerlan­d of America“– mit diesem ambitionie­rten Vergleich wirbt Ouray um Besucher.
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Ouray liegt inmitten schroffer Berge. Siedler nannten die Gegend einst die amerikanis­che Schweiz.
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Auch Einsteiger können sich im Ice Park am Eiskletter­n versuchen.

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