Rheinische Post - Geldern an Kevelaer
Das Erbe von 1871
Die politische Erinnerungskultur würdigt im Staat des Grundgesetzes auch die Wendepunkte seiner Vorgeschichte: die Ereignisse, an die wir positiv anknüpfen möchten, wie die Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche oder die Begründung der Weimarer Republik, aber auch die Daten der NS-Zeit, die wir voller Scham betrachten, weil in zwölf Jahren Verbrechen für 1000 Jahre im Namen unserer Nation begangen wurden.
In einem seltsamen Gegensatz zu diesem (selbst-)kritischen Geschichtsbewusstsein steht die auffällige Nichtbeachtung der 150. Wiederkehr der Gründung des Deutschen Reiches in diesem Jahr. Keine Gedenkstunde im Bundestag, keine öffentlichen (oder „digital-öffentlichen“) Veranstaltungen. Der Bundespräsident immerhin lud eine Reihe von Historikern zum Fachdiskurs. Aber dieser Kreis und einige wenige Fernsehbeiträge und Presseartikel vermögen nicht darüber hinwegzutäuschen, dass unser kollektiver Umgang mit dem 150. Geburtstag eines Staates, in dessen rechtlicher Kontinuität unsere Bundesrepublik steht, als „geschichtsvergessen“beschrieben werden muss.
Dies ist Ausdruck einer gewissen Hilflosigkeit im Umgang mit dem Kaiserreich. Zum einen dominiert seine Wahrnehmung als Obrigkeitsstaat mit einer starken Rolle des Militärs, dessen Sieg über Frankreich der Reichsgründung unmittelbar vorausging. Andererseits würde man dieser Epoche wohl auch nicht gerecht, wollte man sie einseitig unter die dunklen Kapitel deutscher Geschichte oder gar als bloße Vorstufe zum Nationalsozialismus verbuchen.
Andere Nationen tun sich im Umgang mit ihrer Geschichte offensichtlich leichter, obwohl die gefeierten Staatsgründungsakte in der Regel auch nicht mit der Etablierung einer Demokratie nach heutigen Maßstäben zusammenfielen. Ungeachtet der Gewalttaten der britischen „Glorious Revolution“, der Expansion der USA auf Kosten der Ureinwohner oder der Gräuel der Französischen Revolution bleiben die Gründungsdaten im nationalen Gedächtnis verankert und sind Bezugspunkte einer frohen Selbstvergewisserung. Diese mitunter jubilierende Apologetik brauchen wir uns nicht zum Vorbild zu nehmen. Aber sie zeigen uns, dass es nicht klug ist, einzelne Epochen einer wechselvollen Geschichte auszublenden.
Für eine kritisch-reflektierte Erinnerung mag uns auf der einen Seite die Kaiserproklamation in Versailles inmitten des besetzten Frankreich am 18. Januar 1871 als Anknüpfungspunkt ungeeignet erscheinen. Zum anderen wirkt das formale Datum der staatsrechtlichen Entstehung des Reiches am 1. Januar 1871 arg abstrakt. Umso mehr lohnt ein Blick auf die Wahlen zum ersten Deutschen Reichstag vom 3. März 1871, genau heute vor 150 Jahren.
Ihnen kommt eine besondere Bedeutung zu. Denn erst der Reichstag des Deutschen Reiches repräsentierte die deutsche Bevölkerung in allen 25 Bundesstaaten, wenn auch im Sinne einer kleindeutschen Lösung die Deutschen in Österreich dauerhaft außen vor blieben und die Bürger des von Frankreich annektierten Elsaß-Lothringen erst bei den zweiten Reichstagswahlen 1874 ihre Stimme abgeben konnten.
Die Einheit Deutschlands, für die Generationen gekämpft hatten, wurde in den Augen der allermeisten Zeitgenossen 1871 erreicht – wenn auch als Fürstenbund von oben und nicht wie von vielen erträumt als Bund aus der Mitte des Volkes. „Deutschland war ein Obrigkeitsstaat, gewiss, aber zugleich ein Rechtsstaat mit einem demokratisch orientierten Parlament“, fasst die Historikerin Hedwig Richter zusammen.
Und sowohl das alltägliche Leben als auch die Wirtschaft, die Technik, die Kultur und selbst die politische Ordnung waren weniger von Stillstand als von Dynamik geprägt. Stärkste Kraft bereits im ersten Reichstag wurden die Liberalen, deren zwei Parteien zusammen auf über 37 Prozent der Stimmen kamen. Zweitstärkste Kraft wurde das katholische Zentrum, das zwar konfessionell geprägt war, aber zugleich die erste klassenübergreifende Partei in Deutschland darstellte. Das Wahlrecht, das den Frauen und allen Männern unter 25 Jahren eine Stimme verweigerte, wird man vom heutigen Standpunkt aus schwerlich als modern bezeichnen wollen. Für die damalige Zeit war dieses freie, gleiche und unmittelbare Wahlrecht indessen ausgesprochen fortschrittlich. Weder wurde das Recht zur Teilnahme an der Wahl von Grundbesitz abhängig gemacht, noch wurden die Stimmen (wie in vielen Bundesstaaten üblich) nach der Steuerkraft der Wähler gewichtet. Es galt tatsächlich „One man, one vote“.
Die 150. Wiederkehr der Gründung des Deutschen Reiches verdient eine reflektierte und differenzierte Würdigung. Eine Würdigung, die selbstverständlich die positiven wie verhängnisvollen Kontinuitäten unserer Geschichte einbeziehen muss. Zu kurz gegriffen wäre es jedenfalls, die deutsche Geschichte kategorisch in gute und schlechte Traditionslinien einzuteilen. Schon Sebastian Haffner wies 1987 in seinem vielgelesenen Buch „Von Bismarck zu Hitler“darauf hin, dass etwa das Paulskirchen-Parlament „keineswegs in seiner äußeren Politik friedlich gesinnt“war, Bismarck hingegen vom Deutschen Reich stets als von einem „saturierten Staat“gesprochen habe. Dass sich Ende des 19. Jahrhunderts dann andere politische Kräfte in diesem Reich Bahn brachen, gehört wiederum zum dunklen Vermächtnis unserer Geschichte. Der Autor Günter Krings (51), Jurist, ist Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesinnenministerium und Vorsitzender der CDU-Landesgruppe NRW im Bundestag.
Unser Umgang mit dem 150. Geburtstag muss als geschichtsvergessen beschrieben werden