Rheinische Post - Geldern an Kevelaer
Es wird einen Impfstoff fur Kinder geben
Der Chef der Ständigen Impf kommission spricht über den Wirbel um Astrazeneca, frustrierte Bürger und den russischen Impfstoff Sputnik V.
Seit einem Jahr gibt es in Deutschland gefühlt 80 Millionen Virologen. Wie sehr strengt es Sie an, dass sich viele Laien zu Wort melden?
MERTENS Das ist sehr anstrengend und manchmal auch belastend. Gerade in der Debatte über das Impfen erlebe ich viel Aggressivität. Gegen rational vorgebrachte Kritik ist nichts einzuwenden, aber die Diskussion hat mit Fakten oft nichts mehr zu tun. Da entladen sich Emotionen und auch Frust, ohne dass viele Menschen sich eine ausreichende Kenntnis angeeignet haben, um die Dinge beurteilen zu können.
Viele Menschen sind frustriert, weil das Impfen so langsam vorangeht. Was macht Deutschland falsch?
MERTENS Der Grund für den Frust ist ganz klar: der Mangel an Impfstoff. Das wird zwar mit allen möglichen Argumenten kaschiert. Aber das Problem liegt weder bei der Priorisierung noch bei den Impfzentren, sondern es herrscht einfach eine Knappheit. Darauf kann man alle derzeitigen Probleme zurückführen.
Würden Sie eine Prognose wagen, bis wann alle Deutschen geimpft sein können?
MERTENS Ungern. Ich hoffe zumindest darauf, dass wir die Lage bis Herbst so weit im Griff haben, dass der Effekt der Impfungen deutlich sichtbar wird. Bereits jetzt stellen wir einen massiven Abfall von schweren Erkrankungen und Todesfällen in den Alten- und Pflegeheimen fest. Der Effekt des Individualschutzes in der Priorisierung greift schon jetzt. Inwieweit sich ein Herdenschutz einstellt, ist durch wissenschaftliche Studien aber bislang weniger belegt.
Wie sehr sollte man an der Priorisierung festhalten? Müssten nicht die vermeintlichen Superspreader, also besonders mobile Berufstätige, bevorzugt geimpft werden?
MERTENS Wir dürfen auf keinen Fall riskieren, dass die Menschen, die ein hohes Risiko für schwere Krankheitsverläufe, Intensivpflege und tödliche Verläufe haben, ins Hintertreffen geraten. Wenn das nicht der Fall ist, können wir fast alles andere machen. Damit sind wir wieder beim Problem der Knappheit: Die Priorisierung ergibt sich aus der Verteilung eines raren Gutes. In dem Moment, in dem genug Impfstoff da ist, brauchen wir überhaupt keine Priorisierung mehr.
Besonders groß ist die dritte Priorisierungsgruppe. Nach welchen Untergruppen sollte man hier vorgehen?
MERTENS Ich hoffe, dass bis dahin die Hausärzte in das Impfen eingebunden sind. Den Ärzten traue ich zu, dass sie abschätzen können, wer von ihren Patienten das höchste Risiko hat. Die Priorisierung innerhalb einer Stufe kann man nicht von Staats wegen organisieren.
Die Stiko empfiehlt Astrazeneca nun doch auch für über 65-Jährige. War Ihre Vorsicht mitverantwortlich für das Image-Problem von Astrazeneca?
MERTENS Ich habe kübelweise böse E-Mails bekommen, obwohl die eingeschränkte Empfehlung zu Beginn völlig korrekt war. Stellen Sie sich vor, wir hätten einen Impfstoff gerade für die Hochrisikogruppen empfohlen und später hätte sich herausgestellt, dass er ungeeignet ist. Dass der Impfstoff in Verruf geraten ist, hat nichts mit der Stiko zu tun. Es wurde öffentlich auf der vermeintlich schlechteren Wirksamkeit herumgehackt und dabei wurden auch falsche Daten herangezogen. Die Stiko muss sich aber an Evidenz halten. Das war kein Fehler. Die jetzt aktualisierte Empfehlung erfolgte innerhalb von drei Tagen nach Bekanntwerden der Daten. Viele europäische Länder einschließlich Schweden haben die Altersgrenze unter 65 festgelegt.
Kein Impfstoff hat eine Zulassung für Kinder. Erwarten Sie, dass alle Impfstoffe für Kinder geeignet sind?
MERTENS Ich bin sicher, dass es einen Impfstoff für Kinder geben wird. Derzeit untersuchen die Hersteller in Studien, wie ihre Mittel bei Kindern wirken. Diese Studien sind sehr wichtig, schließlich geht es um die Impfung gesunder Kinder, wovon die allermeisten auch ohne Impfung keine Symptome oder keinen schweren Verlauf haben würden. Zudem wissen wir, dass die Nebenwirkungen oft umso stärker sind je jünger die Menschen sind. Andererseits haben Kinder weniger immunologische Vorerfahrung mit Schnupfenviren, das kann die Wirksamkeit beeinflussen.
Werden Kinder noch in diesem Jahr geimpft?
MERTENS Ich bin mir nicht sicher, ob das dieses Jahr noch etwas wird. Vielleicht können wir Ende des Jahres mit der Impfung der Kinder beginnen. Der Biontech-Impfstoff ist ja bereits für 16-Jährige zugelassen.
Was halten Sie eigentlich vom russischen Impfstoff Sputnik V, der in vielen Ländern gegeben wird?
MERTENS Das ist ein guter Impfstoff, der vermutlich auch irgendwann in der EU zugelassen wird. Die russischen Forscher sind sehr erfahren mit Impfungen. Sputnik V ist clever gebaut: Wie bei Astrazeneca handelt es sich um einen Vektorimpfstoff, der auf einem Adenovirus basiert. Aber anders als bei Astrazeneca verwendet er zwei unterschiedliche Vektorviren für die erste und zweite Dosis. Das ist sehr klug, denn dadurch kann er potenziell auftretende Wirksamkeitsverluste durch Immunantworten gegen die Vektoren verhindern.
Welche Mutation macht Ihnen denn die meisten Sorgen?
MERTENS Wenn sich die Spike-Proteine, die den Coronaviren ihr stacheliges Aussehen verleihen, zu stark verändern, können die Impfstoffe diese Mutanten nicht mehr erfassen. Sorgen machen uns die Varianten aus Südafrika, Brasilien und New York. Allerdings ist hier die Wirksamkeit der verfügbaren Impfstoffe noch nicht gut untersucht. Die gute Nachricht ist, dass die Hersteller ihre Impfstoffe anpassen können. Besonders schnell geht das bei mRNA-Impfstoffen, das dauert im Labor etwa sechs Wochen. Mehr Zeit braucht man bei Vektorimpfstoffen und noch mehr Zeit bei Impfstoffen aus Zellkulturen, wie dem aus China.