Rheinische Post - Geldern an Kevelaer
Mehr als eine Gesetzesreligion
Der Glaube will durch ein Liebesethos und nicht durch Gesetze bezeugt werden.
Den Islam auf ein juristisches Schema zu reduzieren, das alle Lebensbereiche erfassen will, um den Menschen vorzuschreiben, was und wann zu tun und nicht zu tun ist, macht aus dieser Religion eine Ansammlung von Gesetzen, die eine bestimmte Funktion haben: die Gesellschaftsordnung nach einem definierten Verständnis zu gestalten. Diese Funktionalisierung von Religion macht sie allerdings ersetzbar und somit entbehrlich. Denn wir leben in einem Rechtsstaat, der durch die freiheitlich-demokratische Grundordnung zusammengehalten wird, also wozu noch der Islam?
Meines Erachtens hat der wahre Glaube an Gott keine Funktion, denn Gott ist, wie der Koran ihn beschreibt, die Manifestation der Liebe und Barmherzigkeit.
Der Koran beschreibt die Gott-Mensch-Beziehung als Liebesverhältnis: „Er liebt sie und sie lieben ihn“(Koran 5:54).
Liebe kann nicht auf eine Funktion reduziert werden, sie ist Selbstzweck und bedingungslos. Liebe ist aber erst dann Liebe, wenn sie gelebt, geschenkt, geschehen und erfahren wird – und so auch der Glaube an Gott.
Der Glaube an Gott ist ein Geschehen der Liebe im Leben des Menschen, und zwar aus Liebe und für die Liebe. Glaube ist kein verbaler Akt, keine dogmatische Haltung, keine Behauptung, kein Fürwahrhalten von Glaubenssätzen. Glaube als Geschehen der Liebe bedeutet die Bejahung des anderen. Sie ist der Auftrag, alles zu geben, um Glück und Freude zu schenken. Und so gewinnt Religiosität an
Bedeutung für das gelebte Leben hier und jetzt und ist nicht mehr eine Frage nach dem Verbleib nach dem Tod. Ob der Mensch Gott nah steht oder nicht, erkennt er anhand der Liebespotenziale, die er durch sein verantwortungsvolles Handeln in der Welt freisetzt. Wer an Gott glaubt, der entfaltet Liebe in seinem Alltagsleben. Wer meint zu glauben, seinen Glauben aber auf ein Fürwahrhalten reduziert, der ist zwar von der Existenz Gottes überzeugt, aber das ist noch lange nicht der Inbegriff vom Glauben als Geschehen der Liebe. Unser Autor ist Islamwissenschaftler an der Universität Münster. Er wechselt sich hier mit der Benediktinerin Philippa Rath, der evangelischen Pfarrerin Friederike Lambrich und dem Rabbi Jehoschua Ahrens ab.