Rheinische Post - Geldern an Kevelaer
„Es wird nichts vertuscht werden“
Der Jurist hat das Gutachten zum Umgang mit sexuellem Missbrauch im Kölner Erzbistum erstellt. Er spricht von 236 Aktenvorgängen zwischen 1975 und 2018 sowie etlichen Pflichtverletzungen auf mittlerer und oberste Ebene.
Herr Gercke, Ihre Kanzlei hat seit Oktober 2020 ein Gutachten erarbeitet, dessen Veröffentlichung in der kommenden Woche mit großer Spannung erwartet wird: Es geht um den Umgang mit sexuellem Missbrauch im Erzbistum Köln. Wie ist der Stand?
GERCKE Das Gutachten ist fertig, es wird Anfang kommender Woche gedruckt. Bei der Pressekonferenz am Donnerstag werden wir die wesentlichen Ergebnisse vorstellen, es wird für Journalisten die Möglichkeit für Fragen geben und anschließend wird es in Gänze online gestellt.
Wie viele Seiten können wir dann lesen?
GERCKE Das ist eine gute Frage, aktuell ist es bei mir noch in der Word-Arbeitsversion. Gehen wir von einem ähnlichen Layout aus wie bei dem Münchener Gutachten, das knapp 350 Seiten beträgt, kann ich nur sagen: Es sind deutlich mehr.
Sie sprechen es an: Es gibt bereits ein Gutachten im Auftrag des Erzbistums, das für Aufsehen sorgte, weil das Erzbistum sich kurzfristig entschied, es nicht zu veröffentlichten.
GERCKE Ja, damit hatte unsere Kanzlei ursprünglich nichts zu tun. Das Erzbistum ist im September auf uns zugekommen und bat uns zunächst, lediglich den etwa 100-seitigen Teil des Münchener Gutachtens zu überarbeiten, bei dem es um die persönlichen Verantwortlichkeiten geht. Dort gab es äußerungsrechtliche Bedenken.
Das bedeutet, man befürchtete im Nachgang Klagen der Verantwortlichen, deren Namen oder Funktionen im Gutachten genannt werden?
GERCKE Dass Beschuldigte juristische Schritte ergreifen, ist strafrechtlicher Alltag, das ist nicht der Punkt. Entscheidend ist, dass ein Gutachten diesbezüglich rechtssicher ist, so dass Klagen keinen Erfolg hätten. Wir sollten also den kritischen Teil des Gutachtes diesbezüglich absichern. Das Erzbistum hatte ja eigentlich nie die Absicht, das gesamte Münchener Gutachten zurückzuhalten.
Sie haben es letztlich doch ganz neu gemacht.
GERCKE Ja, weil wir die Herangehensweise der Münchener Kanzlei nicht nachvollziehen konnten und auch methodisch anders vorgehen. Insbesondere haben wir nicht nur 15 Missbrauchsfälle exemplarisch herausgepickt wie im ersten Gutachten, wir werden alle Fälle in Kurzform darstellen. Außerdem haben wir auch den Mittelbau untersucht, in einem Unternehmen würde man sagen: die mittlere Managementebene.
Wie viele Fälle sind es denn, wie viele Beschuldigte, wie viele Opfer?
GERCKE Wir haben das Verhalten von Verantwortlichen von 1975 bis 2018 geprüft und sprechen da von 236 Aktenvorgängen. Wir haben keine einzelnen Taten untersucht, also wer wem wann was angetan hat. Das könnten wir auch gar nicht in dem Umfang, die Fälle an sich gehen teilweise bis in die Nachkriegszeit zurück. Viele Beteiligte sind bereits verstorben oder nicht mehr sprechfähig oder -willig. Unsere Aufgabe war, zu untersuchen: Was wusste der Erzbischof, der Generalvikar oder der Offizial von den Fällen und haben sie die richtigen Schritte eingeleitet? Haben sie bei der Bearbeitung von Fällen Pflichten verletzt? Haben sie sich korrekt verhalten?
Wie viele Personen in welchen Funktionen sind denn Ihren Erkenntnissen nach mitverantwortlich für Verfehlungen im Umgang mit sexuellem Missbrauch?
GERCKE Das verraten wir erst am 18. März. Es geht aber nicht um Lehrer oder einfache Priester. Es geht um Verantwortungsträger der obersten und mittleren Ebene, so lautete auch der Auftrag.
Wie sind Sie konkret vorgegangen?
GERCKE Wir haben die Aktenlage ausgewertet und in den Fällen, in denen wir potenzielle Pflichtverletzungen festgestellt haben, haben wir die Personen, die dadurch belastet werden, hiermit direkt konfrontiert – sofern sie noch leben. Wenn es dann noch Unklarheiten gab, haben wir dritte Personen befragt. Aber in Fällen, die für uns eindeutig waren – in die eine oder andere Richtung – haben wir keine Dritten befragt, weder Opferbeauftragte noch potenzielle Opfer. Das wäre für das Gutachten auch verfälschend, weil viele Beteiligte eben nicht mehr leben aufgrund der großen zeitlichen Bandbreite der Fälle. Wir werden das im Detail am kommenden Donnerstag erklären.
Die Münchener Kanzlei sprach von großen Defiziten in der Aktenführung, die die Gutachtenarbeit enorm erschwert hätten. Wie konnten Sie also die Akten zur Grundlage nehmen?
GERCKE Das sehen wir wie die Münchener Kollegen. Die katastrophale Aktenlage ist ein wesentlicher Punkt in unserem Gutachten, die habe auch ich im Vorfeld schon kritisiert. Aber sowohl für die Münchener Kollegen als auch für uns gilt: Wir können nur mit dem Material arbeiten, das wir haben. Wir können die Fälle nur anhand der Akten anschauen; ob in den Akten die tatsächlichen Vorgänge korrekt wiedergegeben werden, können wir nicht beurteilen. Das könnte man nur ermitteln, in dem man jeden Fall neu aufrollt. Das ist nicht Sinn des Gutachtens, und das ist in vielen Fällen auch gar nicht leistbar.
Wenn die Aktenlage so schlecht ist, konnten Sie also womöglich nicht alle Pflichtverletzungen aufdecken und werden es auch nie können?
GERCKE Wir konnten in etlichen Fällen Pflichtverletzungen belegen. Aber in Fällen, in denen es die Akten nicht hergeben, wenn aus ihnen keine eindeutige Pflichtverletzung hervorgeht, dann darf ein Jurist nicht anfangen zu spekulieren. Natürlich gibt es Akten, da kribbelt es, da denkt man: Da ist etwas – kann es aber nicht belegen. Auch dazu kann ich am 18. März mehr sagen.
Sehen Sie das Gutachten auch als Teil später Gerechtigkeit, die den Geschädigten zukommt?
GERCKE Natürlich würden wir es uns wünschen, dass es einen Teil dazu beiträgt. Wichtig für die Zukunft ist, die strukturellen Probleme aufzuzeigen, die diese Taten begünstigt haben. Deshalb werden wir Handlungsempfehlungen aussprechen, wie man aus juristischer Sicht bessere Strukturen schaffen kann, was den Umgang von Verantwortlichen mit Missbrauch betrifft.
Haben Sie Bedenken, dass die Veröffentlichung auf den letzten Metern scheitert?
GERCKE Ich habe den Eindruck, dass das Erzbistum das sehr ernst nimmt. Es wird nichts zurückgehalten und vertuscht werden. Wenn etwas vertuscht werden sollte, wären wir die Falschen gewesen mit diesem Auftrag. Wir haben auch einen Ruf zu verlieren, und als Professor habe ich da auch einen wissenschaftlichen Anspruch.