Rheinische Post - Geldern an Kevelaer
Johannes-Wilhelm Rörig fordert als Missbrauchsbeauftragter Willen zur Aufklärung von der Kirche.
Wer im Kirchenamt pflichtwidrig handelte, sollte sich nach den Worten des Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung fragen, welche Folgen dies hatte. Das Gutachten des Erzbistums Köln könne nur der Anfang sein.
Herr Rörig, hatten Sie zuletzt Kontakt mit Kardinal Rainer Maria Woelki?
RÖRIG Ich stehe mit dem Generalvikariat des Erzbistums Köln im Austausch, vor allem in der Frage der anstehenden Einsetzung der unabhängigen Aufarbeitungskommissionen, die ich mit der Bischofskonferenz vereinbart habe. Dabei geht es auch um die Beteiligung von Betroffenen. Und natürlich standen alle Gespräche immer auch unter dem Eindruck der großen Belastungen im Erzbistum Köln, die durch die Nichtveröffentlichung des ersten Gutachtens ausgelöst wurden – und der schweren Enttäuschungen dadurch, weit über Köln hinaus.
Überschatten die Ereignisse in Köln die Aufarbeitungsbemühungen sexualisierter Gewalt insgesamt? RÖRIG Die Diskussion um die Kölner Tragödie der Nichtveröffentlichung der Gutachten hat sich negativ auf den Start der Aufarbeitungskommission und ihre Vorbereitung ausgewirkt, keine Frage. Aber ich denke nicht, dass die Kölner Situation die Aufarbeitung des Unrechts von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche verhindert. Wichtig ist, dass vor allem mit der Beteiligung
von Betroffenen und weiteren Experten endlich ernsthaft mit der Aufarbeitung begonnen wird. Die katholische Kirche insgesamt muss ihren Aufklärungswillen unter Beweis stellen – ohne Wenn und Aber.
Alle schauen auf die Präsentation des Gutachtens am Donnerstag. Sind die Erwartungen zu hoch? RÖRIG Nach dem Donnerstag wird längst nicht alles in Ordnung sein. Was wissen wir dann? Wir werden die juristischen Sachverhalte kennen, wer sich möglicherweise pflichtwidrig in einzelnen Fällen verhalten hat und welcher Verantwortungsträger Schuld auf sich geladen hat. Danach kommt es darauf an, welche Verantwortung das Erzbistums glaubhaft und umfassend übernehmen will. Man darf gespannt sein auf die Tage zwischen dem 18. und 23. März, also bis zum Tag, an dem die Konsequenzen der Bistumsverantwortlichen verkündet werden sollen. Das aber ist nur der Blick auf die Täter. Mir ist so wichtig, dass auch die Opferperspektive eingenommen wird. Dass man sich anschaut, wie Kirchenleute mit betroffenen Kindern nach dem Missbrauch umgegangen sind! War der Umgang herzlos oder rigoros? Welche konkreten Folgen hatte der Missbrauch, was brauchen die Betroffenen jetzt? Das geht weit über die juristischen Gutachten hinaus.
Es wird immer betont, dass es systemische Ursachen gibt. Aber innerkirchliche Strukturen entziehen sich der Einflussnahme, etwa der priesterlichen Lebensform. Da ist die Kirche mit eigenen Reformen gefordert. Wobei deutsche Katholiken auf die Weltkirche verweisen… RÖRIG Aber genau diese Punkte müssen jetzt betrachtet werden. Es müssen auch für Fragen der Prävention – also für die Zukunft – strukturelle Konsequenzen abgeleitet werden. Man muss sich unter anderem die Frage stellen, welche Risiken zum Beispiel die Beichte von Kindern und Jugendlichen birgt. Wie kann sie gestaltet werden, dass sie nicht Einfallstor für die Ausnutzung einer Machtstellung wird? Diese Fragen müssen jenseits von juristischen Sachverhalten wie Pflichtwidrigkeit und strafbaren Tathandlungen vorangebracht werden.
Welche systemischen Ursachen begünstigen den sexuellen Missbrauch in der Kirche?
RÖRIG Es ist ein Zusammenspiel verschiedener Aspekte wie der Hierarchie, der Machtstruktur und der Autorität des Geistlichen. Es geht um viele Fragen, wie sie derzeit auf dem Synodalen Weg diskutiert werden. Dazu gehört sicher die Sexualmoral und die Rolle der Frau in der katholischen Kirche. Das alles muss jetzt auch im Rahmen der Aufarbeitung besprochen und geklärt werden.
Laufen Sie in manchen Punkten offene Türen ein?
RÖRIG Zunächst: Das deutsche Staatskirchenrecht ermöglicht eine unabhängige Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch im kirchlichen Bereich. Für den nicht verjährten
Missbrauch ist ohne Einschränkung die Strafjustiz zuständig. Für verjährtes Unrecht sollen jetzt die einzurichtenden Aufarbeitungskommissionen in allen Bistümern zuständig sein. Das ist eine gute Grundlage. Mit dem Start einer solchen Kommission gibt der jeweilige Bischof die Steuerung für die Aufarbeitung aus der Hand. Die Kirche hat keine Mehrheit in diesen Kommissionen, die selbstständig über Vorgehensweisen, Anhörungen und Veröffentlichung entscheiden. Darin kann der Bischof nicht eingreifen.
Eine solche Machtabgabe wäre dann schon ein erster innerkirchlicher Reformschritt.
RÖRIG Für mich ist es das. Darum ist es auch ein durchaus historischer Schritt. Es geht auch darum, jedenfalls bei der Aufarbeitung von Missbrauch, der klerikalen Macht ein unabhängiges Regulativ zu geben.
Verstehen das die Kirchenverantwortlichen schon?
RÖRIG Ich würde sagen: Ein Teil versteht es bereits, ein Teil noch nicht. Aber ich hoffe, dass es künftig immer mehr verstehen.
Sind aus Ihrer Sicht Rücktritte auch von Bischöfen sinnvoll?
RÖRIG Ein Rücktritt nur um des Rücktritts willen bringt nichts. Aber: Ein Rücktritt ist immer auch eine Zäsur, dass nämlich eine Pflichtwidrigkeit zur Aufgabe des Amtes führen kann. Und dann ist doch die spannende Frage, ob ein Rücktritt wirklich zu notwendigen Veränderungen führt, also einer Kursänderung. Das ist abhängig von der Veränderungsbereitschaft des Systems, der Institution. Jeder, der ein wichtiges Amt innehat und pflichtwidrig handelte, sollte sich selbstkritisch befragen, welche Folgen sein Handeln hatte und welche Schäden und Belastungen verursacht wurden. Dann sollte niemand am eigenen Sessel kleben.
Ihre Hoffnung?
RÖRIG Dass das mächtige Erzbistum Köln sich an die Spitze der unabhängigen Aufarbeitung setzt und die Betroffenen so stark wie möglich unterstützt und begleitet werden.