Rheinische Post - Geldern an Kevelaer
Es grassiert die Schlaumeierei
In der Pandemie ist vieles unsicher, im Versuchsmodus. Das provoziert Besserwisserei.
Manche Kinder wissen schon früh Namen von Tieren und Pflanzen, können Hauptstädte und Lieblingsfußballer aufzählen – und werden dafür gelobt. Einige dieser Kinder schließen daraus, dass Zuwendung mit ihrem Wissen zusammenhängt, und weil jeder Mensch
Lob und Anerkennung braucht, bauen sie ihre Identität darauf auf und werden bisweilen – Besserwisser.
Jeder kennt solche Dauerbelehrer. Im Kollegen- und Freundeskreis sind sie anstrengend, denn oft zeigen sie wenig Gefühl dafür, ob ihr Besserwissen überhaupt gefragt ist. Und oft genug wissen sie es gar nicht besser. Im Moment aber ist das kein Einzelphänomen. Seit die Pandemie die gesamte Bevölkerung beschäftigt, grassiert auch die Schlaumeierei. In den sozialen Netzwerken macht gerade ein Witz die Runde, der das auf den Punkt bringt: Die Nachfolge von Bundestrainer Jogi Löw gestalte sich auch deswegen so schwierig, weil die 80 Millionen Bundestrainer gerade alle einen Job als Virologen hätten.
„Besserwisserei gilt in der Psychologie als ein Selbstwertmantel“, sagt Evelyn Summhammer, die ein Buch über Besserwisser geschrieben hat. Corona macht diesen Schutzmantel besonders wichtig. „Nichts ist mehr eindeutig, es gibt widersprüchliche Informationen. Wem will man da noch vertrauen? Also holt man sich seine eigenen Sichtweisen, vertraut in seine eigenen Urteile und tut diese kund“, sagt Summhammer.
Dass es mit den sozialen Netzwerken unzählige neue Foren dafür gibt, verstärkt den Effekt. Außerdem führen die Distanzgebote dazu, dass Menschen weniger Gelegenheiten haben, sich mal wieder feinzumachen und unter Leute zu gehen. Damit entfalle ein Selbstwertfaktor, meint Summhammer. Da möchte man wenigstens mit seiner Meinung wahrgenommen werden.
Die aktuelle Besserwisserei ist also eine Reaktion auf die aktuelle Lage – und dürfte wieder auf Normalmaß schrumpfen, wenn die Stadien erst wieder öffnen dürfen und die Deutschen wieder als Trainer gefordert sind.
Unsere Autorin ist Redakteurin des Ressorts Politik/Meinung. Sie wechselt sich hier mit unserem stellvertretenden Chefredakteur Horst Thoren ab.