Rheinische Post - Geldern an Kevelaer
Polen zurück im harten Lockdown
Die Welle an Neuinfektionen droht das Gesundheitssystem zu überlasten.
WARSCHAU Die dritte Welle der Corona-Pandemie trifft Polen mit der Wucht eines Tsunamis. Zwar war die Zahl der Neuinfektionen schon im Februar stetig gestiegen. Seit vergangener Woche jedoch schoss der Wert von unter 10.000 auf aktuell 25.052. „Den Scheitelpunkt der dritten Welle erwarten wir Anfang April“, erklärte Gesundheitsminister Adam Niedzielski. Am Mittwoch verkündete er die Rückkehr in einen harten, landesweiten Lockdown ab Samstag. Es war das Eingeständnis, zu früh gelockert zu haben.
Experten warnen bereits vor einer nochmaligen Verdoppelung der Infektionszahlen bis Ostern. „Es sieht so aus, als ob die neue Welle durch die Decke geht“, mahnte Pawel Grzesiowski von der polnischen Ärztekammer. Kommt es so, dürfte das chronisch unterfinanzierte Gesundheitssystem seine Belastungsgrenze bald überschreiten. Fast drei Viertel der Klinikbetten sind bereits belegt, die für die Behandlung von Covid-19-Patienten vorgesehen sind. Eine ähnliche Quote gilt für die genutzten Beatmungsgeräte. Minister Niedzielski kündigte massive Anstrengungen an, die Lage kurzfristig zu verbessern. Als größtes Problem gelten jedoch Engpässe beim geschulten Personal, insbesondere auf den Intensivstationen. Seit vielen Jahren wandern Ärzte und hoch qualifizierte Pflegekräfte in westliche EU-Staaten ab, wo sie mehr Geld verdienen.
Die Wucht der dritten Welle ist allerdings vor allem das Resultat politischer Entscheidungen in Warschau. Mitte Februar entschloss sich die Regierung probeweise zu Lockerungen des Lockdowns, der seit dem Herbst galt. Einkaufszentren durften zunächst für zwei Wochen wieder öffnen, ebenso Museen, Kinos, Theater und Hotels. Zwar blieb die Zahl der Kunden und Besucher auf 50 Prozent beschränkt. Das änderte aber nichts an dem Ansturm der Menschen, die nach Abwechslung dürsteten. Gleich am ersten Öffnungswochenende erlebte Polen in dem beliebten Wintersportort Zakopane seinen „Ischgl-Moment“: Menschen drängten sich vor Skiliften, in Einkaufstraßen und geschlossenen Räumen. Sie tanzten und tranken, sangen, schunkelten.
„Jeder, der diese Bilder gesehen hat, hat sich wahrscheinlich an den Kopf gefasst“, kommentierte Niedzielski die Geschehnisse. Das Verhalten seiner Landsleute nannte er „dumm und verantwortungslos“. Dennoch nahm die Regierung die Lockerungen nach der Testphase
nicht zurück, obwohl die Impfkampagne ähnlich schleppend anlief wie in vielen EU-Staaten, und immer öfter Fälle mutierter Virusvarianten auftraten. Lediglich in einigen der am stärksten betroffenen Regionen wurden die Regeln wieder verschärft. Mit den neuesten Änderungen müssen auch Kinder aller Grundschulklassen wieder zu Hause unterrichtet werden.
Wichtigster Grund für die frühen Lockerungen war die Sorge vor irreparablen wirtschaftlichen Schäden. Selbst Kritiker der rechtsnationalen PiS-Regierung in Warschau räumen ein, dass der Handlungsspielraum für die Verantwortlichen eng ist. „Polen ist weniger wohlhabend als westliche EU-Staaten und kann den Unternehmen viel weniger Mittel zur Verfügung stellen“, sagt der liberale Publizist und Kulturmanager Basil Kerski, der das Europäische Solidarnosc-Zentrum in Danzig leitet. Tatsächlich hat die deutsche Regierung etwa siebenmal so viel für Wirtschaftshilfen lockergemacht wie die polnische. Hinzu komme, so Kerski, dass die Menschen nach Monaten im Lockdown ungeduldig seien: „Sie wollen mehr Freiheiten.“
„Den Scheitelpunkt der dritten Welle erwarten wir Anfang April“
Adam Niedzielski Polnischer Gesundheitsminister