Rheinische Post - Geldern an Kevelaer
Die Wirtschaft fürchtet die dritte Welle
Die Berater der Bundesregierung erwarten nur noch 3,1 Prozent Wachstum. Jedes weitere Quartal Lockdown werde davon einen Punkt kosten. Die Aussetzung von Astrazeneca habe Folgen, mahnt die Sachverständige Veronika Grimm.
DÜSSELDORF/BERLIN Der anhaltende Lockdown bremst die deutsche Wirtschaft weiter aus: Für das Jahr 2021 erwarten die Wirtschaftsweisen nur noch ein Wachstum von 3,1 Prozent. Im Herbst hatten sie noch mit einem Plus von 3,7 Prozent gerechnet. Im ersten Quartal 2021 war die Wirtschaft bereits um zwei Prozent geschrumpft. Im Corona-Jahr 2020 war die Wirtschaft gar um 4,9 Prozent eingebrochen. „Das größte Risiko für die Wirtschaft ist die dritte Corona-Welle, wenn sie zu Einschränkungen in der Industrie führt“, sagte Volker Wieland, einer der vier Ökonomen im Sachverständigenrat. Noch sei man aber weit entfernt von der Krise im Frühjahr 2020, als Fabriken wegen der Unterbrechung von Lieferketten schließen mussten.
Die in dem Rat herrschende Spannung ist förmlich zum Greifen: Nach dem Ausscheiden des Vorsitzenden Lars Feld ist das Gremium von fünf auf vier Sachverständige dezimiert und hat derzeit auch keinen Vorsitzenden. Ein Machtkampf ist entbrannt. Das äußerte sich auch darin, dass bei der Vorstellung der neuen Prognose am Mittwoch in Berlin Volker Wieland und Monika Schnitzer einander keinen Stich ließen und stets die Antworten des jeweils anderen ergänzten. So sehen die Ökonomen die Lage im Einzelnen.
Konjunktur Der Welthandel hat sich erholt, das China-Geschäft hat fast wieder das Vorkrisen-Niveau erreicht. Entsprechend gut geht es der deutschen Industrie, zumal sich hier Hygienekonzepte oft leichter umsetzen lassen als bei personennahen Dienstleistungen. Ganz anders geht es dagegen Handel und Gastronomie, die weiter unter dem Lockdown leiden. Sollten Ministerpräsidenten und Kanzlerin den Lockdown um ein Quartal verlängern, werde das Wachstum einen Prozentpunkt niedriger ausfallen, warnte Schnitzer. Wieland mahnte, Hilfen schneller fließen zu lassen. „Novemberhilfe, Überbrückungsgeld – überall gab es Pannen“, kritisierte er.
Pleiten „Wir erwarten einen Anstieg der Insolvenzen, das dürften einige Tausend mehr werden“, sagte Schnitzer. 2020 war wegen der Aussetzung der Insolvenzantragspflicht die Zahl der Pleiten um 16 Prozent gefallen. Doch die Pleitewelle werde – anders als in der Finanzkrise 2009 – nicht zu Verwerfungen führen, so Schnitzer. „Auch viele kleine Unternehmen sind mit höherem Eigenkapital in die Corona-Krise gegangen.“Allerdings betonte die Ökonomin auch: „Banken verschärfen die Bedingungen für die Kreditvergabe, weil ihre Risikowahrnehmung steigt.“
Impfkampagne „Die Impfkampagne ist entscheidend für die Normalisierung des wirtschaftlichen Lebens“, mahnte Veronika Grimm. Wenn man das Ziel erreichen wolle, 70 Prozent der erwachsenen Bevölkerung bis September zu impfen, müsse Deutschland 330.000 Impfungen täglich schaffen. Derzeit gebe es in den Impfzentren 200.000 Impfungen pro Tag. Die Verzögerung durch die Entscheidung, die Vergabe des Mittels von Astrazeneca auszusetzen, habe „ganz klar wirtschaftliche Auswirkungen“, so Grimm. „Ohne Astrazeneca fallen im zweiten Quartal 22 Prozent der Lieferungen weg, im dritten Quartal 27 Prozent“, rechnet sie vor. Das könne auch die rasche Einbeziehung der Praxen und Betriebsärzte erschweren, für die der unkompliziert lagerbare Impfstoff besonders geeignet ist.
Inflation Nachdem die Preissteigerung lange stagnierte, steigt die Inflation in diesem Jahr wieder auf rund zwei Prozent. Vor allem die Frachtkosten und Preise für Lebensmittel ziehen an. Wegen der globalen Konjunktur-Erholung legen auch die Ölpreise zu. Doch Schnitzer ist überzeugt, dass die Inflation nicht dauerhaft steigt. Das Ende der Mehrwertsteuersenkung wirke sich nur vorübergehend aus.
Arbeitsmarkt Am deutschen Arbeitsmarkt geht die Corona-Krise weitgehend vorbei. Für dieses Jahr erwarten die Experten eine Arbeitslosenquote von 5,9 Prozent, für das nächste Jahr von 5,3 Prozent. Grund: Der massive Einsatz von Kurzarbeit verhindere Entlassungen.
Bildung Mit großer Sorge sehen die Wirtschaftsweisen auf die Lernrückstände, die sich aufgebaut haben. „Bei den Schulen besteht großer Handlungsbedarf, die Rückstände müssen rasch aufgeholt werden“, so Grimm. „Die Schere in der Bildungsgerechtigkeit tut sich immer weiter auf.“Zudem müsse man die Öffnung der Schulen besser mit Teststrategien und Impfungen begleiten. Achim Truger, Wirtschaftsweiser aus Duisburg, hält die Lockerungen seit Monatsanfang grundsätzlich für falsch.
Staatshilfen Die Wirtschaftsweisen forderten, die staatlichen Hilfen in der Krise weiterlaufen zu lassen, dann aber rechtzeitig auszusteigen. „Manches ist aber auch Strukturwandel“, sagte Monika Schnitzer. Insbesondere die immer wieder aufgestockte Hilfe für den Tourismuskonzern Tui sieht sie kritisch. Bei manchen Firmen müsse man sich fragen, ob sie vielleicht schon vor der Krise in „gewissen Schwierigkeiten“waren oder ob sie nach der Pandemie wegen des geänderten Kundenverhaltens überhaupt zu ihrem alten Geschäftsmodell zurückkehren können. „Bei einem Unternehmen wie Tui muss man etwas kritischer draufschauen“, erklärte die Ökonomin.