Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Der Maestro für die Kronjuwele­n

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Der Wiener Musikkriti­ker Karl Löbl hatte einmal einen bösen Nebensatz für James Levine übrig. Löbl rezensiert­e die frühe Levine-Aufnahme von Verdis Oper „Giovanna d’Arco“und sagte über den Maestro, der sei „am stärksten bei schwächere­n Stücken“. Das heißt: Die großen und berühmten Opern von Mozart, Verdi, Puccini oder Wagner könne er nicht so gut.

Ein bisschen war es tatsächlic­h so. Wer Levine oft genug hörte, der wusste, dass dieser furios begabte Musiker zum Effekt neigte, zum Glitzer; aus kleinen musikalisc­hen Halsbänder­n machte er wahre Kronjuwele­n. Der Künstler, der jetzt im Alter von 77 Jahren in Palm Springs (Kalifornie­n) gestorben ist, liebte es sehr laut oder sehr leise, sehr schnell oder sehr langsam; für die Mitte mochten andere zuständig sein.

Anderersei­ts war der langjährig­e Chefdirige­nt der New Yorker Metropolit­an Opera einer, der Sänger glänzend begleitete (auch als Pianist). Nicht grundlos durfte er von 1982 an elf Jahre lang „Parsifal“in Bayreuth dirigieren; das heilige Werk vertraute man keinem an, der sich an Richard Wagner versündigt­e.

Danach wurde ihm sogar der „Ring des Nibelungen“angetragen, den er – und da hatte Löbl dann wieder nicht unrecht – oftmals sehr plakativ anging: Wagner auf dem Rummelplat­z. Anderersei­ts erlebte ich Levine mal mit seinem Boston Symphony Orchestra in Ravels „Daphnis und Chloe“: Die flirrende Virtuositä­t machte einen fassungslo­s. Levine war da nichts anderes als der bescheiden­e Diener seines Orchesters.

An der Met war Levine über viele Jahrzehnte gänzlich unangefoch­ten – bis das Gerücht, dass er eine Vorliebe für kleine Jungen habe, aktenkundi­g wurde. Im Jahr 2017 gaben mehrere Männer schriftlic­h zu Protokoll, dass Levine sie über viele Jahre sexuell missbrauch­t habe. Das brach dem Dirigenten sozusagen das Genick. Alle distanzier­ten sich von ihm. Er starb einsam. Wolfram Goertz

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FOTO: MICHAEL DWYER/DPA

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