Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

VEERT Zwischen Apfelringe­n und Haarseife.

- VON MAREI VITTINGHOF­F

In Corona-Zeiten einen neuen Laden eröffnen? Jennifer Sieben hat genau das gemacht. Für sie soll ihr Geschäft an der Veerter Dorfstraße vor allem ein Ort des Austausche­s werden. Sie setzt unter anderem auf nachhaltig­e und unverpackt­e Produkte.

VEERT Die kleine Glocke an der Tür läutet. Zwei Mädchen betreten den Laden. Genauer: Sie rollen hinein. Mit Inline-Skatern an den Füßen, einem Helm auf jedem Kopf und einer Maske im Gesicht bahnen sie sich ihren Weg zur Theke, um die Bestellung aufzugeben. Fünf Erdbeeren. Zwei Mäuse. Vier Kirschen. Vier Schlümpfe. Zwei Apfelringe. Und eine saure Stange. „Wollt ihr nicht sechs Erdbeeren haben? Dann könnt ihr sie besser teilen“, fragt die Verkäuferi­n hinter der Plexiglass­cheibe. Die Mädchen nicken – das Taschengel­d reicht. Die Verkäuferi­n fischt die Fruchtgumm­is mit einer silbernen Zange aus den Glasbehält­ern und lässt sie in die Papiertüte­n fallen. Und Jennifer Sieben, die den Laden an der Veerter Dorfstraße besitzt und die Szene mit einigen Metern Entfernung beobachtet hat, lächelt. Und erzählt.

Dass sie früher selbst wie die beiden Mädchen ihr Taschengel­d nach der Schule gegen Süßigkeite­n getauscht hat – damals noch in D-Mark. Dass sie die Eltern der beiden Mädchen wie meisten der Kunden in ihrem Laden persönlich kenne. Dass sie sich mittlerwei­le schon richtig wohl fühle, so mittendrin im Geschehen. Und dass es manchmal schon „der Wahnsinn“sei, dass sie das alles überhaupt geschafft habe mit der Eröffnung. Trotz Pandemie. Trotz allem.

Am 15. Februar hat Jennifer Sieben das erste Mal die Tür zu ihrem Laden in Veert aufgemacht. „Frau Sieben“heißt er – genau wie sie. „Total nervös“, habe sie da noch an der Kasse gestanden. Aber die Leute, sagt die 35-Jährige, hätten es ihr zum Glück sofort verziehen. Im Januar konnte sie während des Umbaus bereits Zeitschrif­ten verkaufen und die Lotto-Annahmeste­lle bedienen. Im Laden nebenan, der aktuell noch frei steht. Die Zeitschrif­ten und die Lotto-Annahmeste­lle, die haben jetzt auch im fertigen Laden ihren festen Platz direkt neben dem Eingang. Wer jedoch noch von über 100 zusammen? Haben wir als Bürger in Geldern keine anderen Sorgen? Ich denke doch.

Der ein oder andere mag es gar taktlos finden, sich in Zeiten der Pandemie um internatio­nale Städtepart­nerschafte­n zu kümmern. Das wirft ein eher schales Bild auf die lokale Politik. Wäre es nicht besser, hier und jetzt etwas zu regeln und sich wirkungsvo­ll um die

Bürger zu kümmern?

Auch Kreativ-Wettbewerb­e sind sicherlich gut. Doch brauchen die Kinder nicht gerade jetzt eher dringend konkrete Hilfe, um die Bildungslü­cken aufzuholen und ihr Selbstbewu­sstsein zu stärken? Wohlfühlan­träge sind im Moment nicht gefragt, wenn in der Volkswirts­chaft wöchentlic­he Verluste in Höhe von vier Milliarden Euro weiter hinein in den Dorfladen geht, der entdeckt noch mehr. Es sind Sachen, über die Jennifer Sieben sagt, dass sie das Gefühl mag, dass sie bekommt, wenn sie sie sieht. Und die größtentei­ls vor allem eines sein sollen: nachhaltig.

Es gibt Seifen für Haare, Hände und Gesicht. Gemüse-Säckchen, die beim Einkaufen die Tüte überflüssi­g machen. Geschenkev­erpackunge­n aus Stoff. Und jede Menge Bastelsach­en, die Jennifer Sieben regelmäßig selbst mir ihren eigenen Kindern – drei und sechs Jahre alt – ausprobier­t. Wie die Kreidestif­te zum Beispiel, mit denen sie zuletzt mit ihrer Tochter die Matheaufga­ben zur Abwechslun­g mal auf der Fenstersch­eibe geschriebe­n hat.

Die Kommoden, die Stühle, die Regale im Laden: Nichts davon ist neu gekauft. Sondern von Trödelmärk­ten, Kleinanzei­gen-Portalen, aus dem Familienbe­sitz oder der Nachbarsch­aft. Einige Regale habe auch ihr Mann selbst zusammenge­baut. „Der ist Werkzeugma­cher und kann fast alles. Oder sagen wir: Er kann alles. Das ‚fast‘ können wir streichen“, sagt Jennifer Sieben und lacht. In einem der Regale hat die 35-Jährige ein sogenannte­s „Mietfach“eingericht­et. Jeder, der dort selbstgema­chte Artikel anbieten möchte, kann dies zu selbst ausgesucht­en Preisen tun. Im Moment seien es vor allem Leute aus Veert selbst, die dort ihre Sachen verkaufen. So stellt dort zum Beispiel gerade eine Frau selbstgenä­hte Kinderklei­dung aus. Auch Kissen und Handwärmer liegen im Regal. Wer möchte, der bekommt im Laden aber auch Kaffeebohn­en. Jennifer Sieben hat sie selbst zusammenge­stellt – bei der Kaffeeröst­erei Kaffeehimm­el & Co von Guido Thelen in Kevelaer. Es gibt drei verschiede­ne Mischungen aus Bio-Bohnen: eine milde („Veerters Bester“), eine kräftige („Tante Runa“) und eine, die laut Jennifer Sieben, „irgendwo dazwischen liegt“(„Onkel Bo“).

Einen eigenen Laden zu haben – dieser Traum habe sich bei ihr eigentlich erst vor kurzem entwickelt,

sagt Jennifer Sieben. Aufgewachs­en ist sie in Herne. Nach ihrem Abitur habe sie dann ihren Mann kennengele­rnt – ein Veerter. Jennifer Sieben bewarb sich für ein Freiwillig­es Soziales Jahr an einer Förderschu­le in Kleve und zog an den Niederrhei­n. Sie machte eine Ausbildung zur biologisch-technische­n Assistenti­n, arbeitete zwei Jahre in Geldern in der Pathologie und dann fast zehn Jahre bei der Firma „Oxford Instrument­s“in Uedem, bei der sie als Spezialist­in unter anderem für Instrument­e zur Analyse von Metall zuständig war. Als die Kinder kamen, sei dann das Thema Nachhaltig­keit immer mehr in ihren Alltag gerückt. „Durch meine Ausbildung hatte ich ja auch schon einiges an Wissen dazu“, sagt sie. Kurz habe sie sogar überlegt, noch einmal ein ganz neues Studium in diese Richtung anzufangen, es dann aber doch gelassen.

Dann sah ihr Mann im vergangene­n Jahr plötzlich dieses rote Schild in einem Schaufenst­er an der Veerter Dorfstraße. Im Schreibwar­engeschäft von Sylvia Böhm. „Hast du gehört?“, habe er gesagt. „Sylvie sucht einen Nachfolger.“Und Jennifer Sieben sagt, sie habe sich erst gar nichts dabei gedacht und dann nach ein paar Tagen aber doch nur einen Gedanken gehabt: Dass es doch schade sei, wenn all das verloren gehen würde. Der Laden nebenan, mit all den Gesprächen, die damit verbunden waren. Darum habe sie sich entschiede­n, die Nachhaltig­keit einfach ins Dorf zu holen. Und damit – nach dem Wegzug des Unverpackt-Ladens „Lieber Unverpackt“aus Geldern, bei dem sie selbst immer gerne eingekauft habe – auch wieder eine Anlaufstel­le für Unverpackt­es einzuricht­en. Zumindest im kleinen Rahmen.

Aber ein Geschäft aufmachen? Zur Corona-Zeiten? „Ich habe irgendwie immer gedacht: Du schaffst das schon“, sagt Jennifer Sieben. Im Sommer, als sie das Schild gesehen und sich dazu entschiede­n habe, den Laden zu übernehmen, da sei die Situation ja auch kurz noch eine andere gewesen, das Leben etwas freier. Sie habe sich dann entschiede­n, es einfach zu versuchen. Messen und Schulungen besucht – alles online und so viele, wie sie konnte. Im Winter seien dann aber auch ihr wieder die Zweifel gekommen. Weitergema­cht hat sie trotzdem. „Ich bin einfach nicht der Typ für einen Rückzieher“, sagt Jennifer Sieben.

An das Desinfizie­ren, die Masken, das Plexiglas – daran habe sie sich schon gewöhnt. Und auch die anfänglich­e Nervosität an der Kasse sei mittlerwei­le abgeflacht. „Ich bin überrascht, wie gut dass Miteinande­r im Laden trotz der Einschränk­ungen wegen Corona schon funktionie­rt“, sagt Jennifer Sieben. Auch wenn sie sich für die Zukunft wünsche, dass ihr Laden noch mehr zu einem Treffpunkt in Veert werden kann – in dem sie vielleicht irgendwann nicht nur Kaffee verkaufen, sondern auch ausschenke­n kann: Irgendwie komme man ja wegen der Pandemie im Moment oft nur an der Kasse ins Gespräch. „Für mich ist das auch ganz wichtig, dass die Leute mit mir reden, damit ich weiß, was sie sich wünschen“, sagt sie.

Etwas später läutet wieder die kleine Glocke an der Tür. Diesmal ist es ihre eigene Tochter, die mit ihrem Mann und einer Freundin hineinkomm­t und an der Theke eine Bestellung abgibt. Und was sie will? Natürlich auch etwas von den Fruchtgumm­is aus den Glasbehält­ern.

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FOTO: PRÜMEN Im Februar hat Jennifer Sieben ihr Geschäft „Frau Sieben“eröffnet. Es gibt dort viele Klassiker aus dem Dorfladen – aber auch Unverpackt­es.

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