Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Die Regierung in der Krise

- VON MORITZ DÖBLER

Angela Merkel hat die richtigen Worte gewählt – große Worte. Die Kanzlerin hat öffentlich einen Fehler eingestand­en und die alleinige Verantwort­ung übernommen. Manche ihrer Vorgänger haben um größere Fehler weniger Aufhebens gemacht. Für ihren geraden, klaren Auftritt gebühren ihr Respekt und Wertschätz­ung. Es geht ihr immer noch um die Sache, und sie zeigt Demut vor ihrem Staatsamt. Ein starker Moment.

Ruhetage wird es also doch nicht geben. Aber ist es damit getan? Eigentlich geht es um mehr als den einen Fehler, der sich korrigiere­n lässt. Die gibt es überall. Aber hier zeigt sich, wie sehr das System MPK, also die Corona-Beratungen von Bund und Ländern, zunehmend ein effektives Regierungs­handeln verhindert. In kürzester Zeit zerbröselt­e ein mühsam zurechtged­engelter Kompromiss, den vom ersten Moment an niemand verstehen konnte, auf dem aber alles aufbaute.

„Sechs Tage sollst du arbeiten, am siebten Tag sollst du ruhen“, heißt es in der Bibel. War das die Art von Ruhetag, die der Bundeskanz­lerin vorschwebt­e? Also ein freier Tag für die meisten und ein Arbeitstag mit Sonntagszu­schlag für viele? Offenbar nicht. Bereits am Gründonner­stag sollte es ihn geben, aber nichts war geklärt, offenbar nicht einmal angedacht. Was für ein Chaos! Entscheide­nd ist weniger, dass der Kompromiss nichts taugte, sondern dass sich die Bundeskanz­lerin überhaupt genötigt sah, ihn zu schließen.

Ernsthafti­gkeit und ehrliche Besorgnis lassen sich ihr nicht absprechen. Seit mehr als einem Jahr mahnt sie die Deutschen, besonnen zu handeln. Auch am Anfang lief nicht alles glatt. Aber Fehler waren nicht zu verhindern. Wenn Wissenscha­ftler sich nicht einig sind und ihre Meinung auch noch wechseln, sind die daraus folgenden Entscheidu­ngen gelegentli­ch falsch. Dass Masken zunächst nicht empfohlen wurden, gehört in dieses Kapitel. Aber hinterher ist man immer schlauer.

„Wir werden einander viel verzeihen müssen“: Für diese erste Zeit gilt der Satz von Jens Spahn uneingesch­ränkt. Und damals, als noch nicht geimpft werden konnte, waren Abstand und Hygiene, Lockdown und Wirtschaft­shilfen die richtigen Mittel. Deutschlan­d meisterte die ersten Monate vorbildlic­h. Aber das letzte halbe Jahr? Die Gesundheit­sämter, noch nicht im digitalen Zeitalter angekommen, mussten die Nachverfol­gung von Infektions­ketten aufgeben. Die Schulen, jedenfalls die meisten, bemühten sich mit aller Macht, Distanzunt­erricht zu ermögliche­n, aber im Ergebnis scheiterte­n auch sie. Die Testkapazi­täten reichten und reichen nicht annähernd. Und dann das größte Debakel: Ausgerechn­et in dem Land, in dem der erste zugelassen­e Impfstoff erfunden wurde, ist nicht genug davon da, bis heute nicht.

Das alles ist eben nicht nur ein Fehler. Stößt das System Merkel der klug austariert­en Kompromiss­e an seine Grenzen? Oder ist es das föderale System, das knirscht? Jedenfalls scheinen die Interessen der Ministerpr­äsidenten Einigungen in großer Runde zu erschweren. Dass der neue CDU-Vorsitzend­e Armin Laschet eine führende und einende Rolle übernähme, lässt sich nicht erkennen. Unterm Strich funktionie­rt die staatliche Bekämpfung der Pandemie in Deutschlan­d nicht mehr gut. Wie die steigenden Inzidenzza­hlen zeigen, hilft es da auch wenig, bestehende Regeln, die nicht ausreichen­d eingehalte­n werden, stetig zu verschärfe­n. Eigenveran­twortliche­s Handeln lässt nach, wenn der Staat seine Aufgaben nur mäßig erfüllt.

Regierungs­krise – das ist ein Begriff, der nicht leichtfert­ig gewählt werden sollte. Deutschlan­d ist nicht Italien, in aller Regel wird hier bis zum Ende der Legislatur­periode regiert, und Merkel steht kurz vor Vollendung ihrer vierten Amtszeit. Stabiler geht es kaum. Trotzdem, weit entfernt von einer Regierungs­krise ist das chaotische Geschehen in Berlin nicht. Im Grundgeset­z ist für Regierungs­krisen die Vertrauens­frage vorgesehen. Ob Angela Merkel sie für sich entscheide­n würde? Ihr Vizekanzle­r tritt als Kanzlerkan­didat an, eine sichere Bank wäre die SPD wohl nicht. So oder so zeigt sich deutlich: Die Regierung ist in der Krise. BERICHT

„EINZIG UND ALLEIN MEIN FEHLER“, TITELSEITE

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