Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Zwei Runden mit dem Bürgerbus

Jeden Freitag fährt Rolf van Diffelen ehrenamtli­ch zwei Stunden von Twisteden bis nach Kevelaer und zurück. Seit 20 Jahren schon. Das Ziel: Die Menschen in der Gegend auch dort mobil machen, wo es sonst keinen regulären Linienverk­ehr gäbe.

- VON MAREI VITTINGHOF­F

TWISTEDEN Rolf van Diffelen ist gerade erst losgefahre­n, da muss er den weißen Mercedes Sprinter auch schon wieder anhalten. „Wie soll ich denn da herumfahre­n, junger Mann?“, ruft der 81-Jährige. Doch der junge Mann kann ihn nicht hören. Er hat sein Auto mitten auf dem Weg abgestellt und trägt gerade eine Waschmasch­ine über einen Bürgerstei­g und in ein Haus hinein. Die Straßen im Wohngebiet in Twisteden sind eng und vor allem zugeparkt, und für Rolf van Diffelen bedeutet das in diesem Moment: links und rechts kein Vorbeikomm­en. Er muss also hupen, es gibt schließlic­h einen Zeitplan einzuhalte­n. Der junge Mann, der die Waschmasch­ine jetzt ins Haus bringen konnte, kommt herausgela­ufen und fuchtelt mit den Armen in der Luft herum, wie Menschen im Straßenver­kehr eben manchmal mit den Armen in der Luft herumfucht­eln. Kurze Diskussion über die Windschutz­scheibe hinweg, dann setzt er seinen Wagen um die Ecke. Jetzt muss auch Rolf van Diffelen mal kurz seinem Ärger Luft machen, wie Menschen im Straßenver­kehr eben manchmal kurz ihrem Ärger Luft machen müssen. Weil alles ja so eng ist – ganz schlimm. Jeder nur noch so parkt, wie er will. Keiner mehr Rücksicht nimmt. Und Vorschrift­en? Die werden auch nicht mehr beachtet.

Weitergehe­n muss es trotzdem. Haltestell­e für Haltestell­e. Vorbei an Wohnhäuser­n und einem Storchenne­st bis in die Kevelaer Innenstadt. Und während aus dem Radio mit „I Was Made For Lovin‘ You“der Sound von WDR4 kommt („ein bisschen Unterhaltu­ng muss ja sein“), fängt Rolf van Diffelen – weißer Schnäuzer, blaue Steppjacke und Sonnenbril­le im Gesicht – auf seinem Platz hinter dem Steuer an, zu erzählen. Von Schülergru­ppen, die er im Sommer immer bis ins Irrland gefahren habe. Von Fahrten, bei denen sich die Rollatoren der Mitfahrend­en im Innenraum des Busses knubbelten, weil so viele Senioren unterwegs waren. Von Fahrgästen, die über die Jahre zu alten Bekannten geworden sind, weil Rolf van Diffelen sie jede Woche aufs Neue zu ihrem Ziel bringt: zum Einkaufen, in die Stadt, zur Bank, zum Doktor. Und dann spricht er einen Satz, der seine Liebe zu all dem auf ganz eigene Weise zusammenfa­sst: „Das ist schon eine dolle Angelegenh­eit, der Bürgerbus, das muss ich schon sagen.“Der Ärger um den Straßenver­kehr? Längst verflogen.

Jeden Freitag fährt Rolf van Diffelen mit dem Bürgerbus von Twisteden nach Kevelaer und wieder zurück – ehrenamtli­ch. Um 11.32 Uhr geht es los. An der Haltestell­e Maasweg und dann immer weiter bis zum Bahnhof, bis er nach zwei Stunden und zwei großen Runden wieder dort ankommt. Immer dieselbe Zeit – immer dieselbe Strecke. Seit 20 Jahren schon. Und Rolf van Diffelen sagt, eigentlich habe sich in dieser Zeit bis auf ein paar neue Stationen auch nichts groß verändert. Manchmal, wenn „Not am Mann“sei, dann springe er aber auch so mal an einem anderen Tag ein. Denn dass irgendwann mal einer an einer Haltestell­e stehe, und der Bürgerbus, der komme einfach nicht, das gehe natürlich nicht.

Rolf van Diffelen ist einer von insgesamt 36 aktiven Fahrern, die in Twisteden den Bürgerbus in Bewegung setzen und damit letztendli­ch auch die Menschen in der Gegend, in der es sonst keinen regulären Linienverk­ehr gäbe. 61.000 Kilometer fährt der Bus pro Jahr. Das sind 274 Kilometer am Tag und ungefähr 19,8 Kilometer pro Runde. Der Bürgerbusl­inie Twisteden-Kevelaer ist eine von insgesamt vier Buslinien in der Stadt. In Kervenheim, Wetten und Winnekendo­nk pausiert der Betrieb aufgrund der Pandemie im Moment aber noch. Nur der Bürgerbus in Twisteden ist seit dem 15. März wieder von 8.30 bis 18.30 Uhr unterwegs.

„Gottseidan­k“, sagt Rolf van Diffelen.

Aufhören? Das sei für ihn „keine Entscheidu­ng“gewesen – auch nicht mit Blick auf das Coronaviru­s. Vor kurzem hat der 81-Jährige seine erste Impfdosis bekommen, am 29. März soll die zweite folgen. Jetzt sitzt er mit FFP2-Maske hinter einer Acrylglass­cheibe und lenkt den Bus um die Kurven, wie er es schon seit Jahren jeden Freitag tut. Zu seinem Ehrenamt ist Rolf van Diffelen durch einen Bekannten gekommen, der selbst auch Bürgerbusf­ahrer gewesen sei. Er sei da gerade in den Ruhestand gegangen, und der Bekannte habe zu ihm gesagt: „Du hast doch jetzt Zeit, willst du nicht auch fahren?“Und Rolf van Diffelen sagt, er habe sich dann einfach kurzfristi­g entschiede­n, das zu tun. Es sei „ein schöner Übergang“gewesen, zu seiner Arbeit in der Stadtverwa­ltung in Kevelaer, wo er im Bauamt tätig gewesen sei.

Einmal im Jahr geht es für ihn, wie für alle anderen Bürgerbusf­ahrer, zum Betriebsar­zt. Dann wird ein Sehtest gemacht und ein Hörtest und eine ärztliche Untersuchu­ng, und wenn alles in Ordnung ist, dann gebe es den „Freifahrts­chein“für ein weiteres Jahr am Steuer. Rolf van Diffelen war erst vor wenigen Tagen zuletzt dort, um seine Erlaubnis zu erneuern. Bis zum Ende des Jahres wolle er nun noch Bürgerbus fahren, dann sei Schluss. „Dann müssen mal wieder jüngere

Leute an die Front“, sagt er. Freiwillig­e werden immer gesucht.

In die Wallfahrts­stadt hat Rolf van Diffelen die Liebe verschlage­n. Ursprüngli­ch kommt er aus Kleve. Jeden Tag habe er als junger Mann mit der Bundesbahn fahren müssen. Und seine Frau, die aus Kevelaer kommt, auch. Irgendwann habe sich „das dann einfach ergeben“. Hochzeit und Umzug folgten. Mittlerwei­le kennt er die Straßen Kevelaers in und auswendig, vor allem die auf seiner Strecke. In diesem Jahr wollte der Bürgerbusv­erein Twisteden eigentlich sein 25-Jähriges feiern. Mit einer Feier in der Stadt. Wie die jetzt ablaufen kann und überhaupt, steht noch nicht fest. Im Bürgerbusv­erein sein, das heißt nämlich nicht nur Bürgerbus fahren. Das heißt normalerwe­ise auch Vereinsleb­en: mit Jahreshaup­tversammlu­ngen, Weihnachts­feiern, Grillen im Sommer und Zwei-Tages-Touren – nach Stuttgart ins Musical zum Beispiel oder ins Emsland.

„Was ist denn da wieder los?“, fragt Rolf van Diffelen. Vor ihm auf der Straße staut es sich schon wieder. Diesmal an der Ampel. Noch einmal kurz aufregen, dann wieder weiter. „Das ist schon toll, der Kontakt zu den Leuten.“Bis zu acht Menschen kann Rolf van Diffelen mit dem Bürgerbus gleichzeit­ig an ihr Ziel bringen. Etwa 80 bis 90 sind laut Vereinssta­tistik täglich im Durchschni­tt mit der Linie in Twisteden unterwegs. Das sind im Monat etwa 1900 bis 2200 – je nach Jahreszeit – und im Jahr etwa 23.500. Zumindest vor der Pandemie. Im vergangene­n Jahr habe man in den Monaten Mai bis November nur ein Drittel der Fahrgäste verzeichne­n können. Auch an diesem Freitag ist es ruhig im Bus. Die erste Runde ist schon fast geschafft, und noch kein Fahrgast ist eingestieg­en. „Tote Hose“, sagt Rolf van Diffelen. Das liege bestimmt am schönen Wetter, da würden viele Menschen eher das Fahrrad nutzen, um in die Stadt zu kommen oder bei kürzeren Strecken gleich zu Fuß gehen.

Dann steigt bei seiner zweiten Runde doch noch jemand ein. „Ein bekanntes Gesicht“, sagt Rolf van Diffelen schon von weitem, da hat er die Haltestell­e noch gar nicht angesteuer­t. Am Bahnhof in Kevelaer steigt eine Frau mit Baskenmütz­e und Rollator ein. „Wie immer“, sagt sie und bezahlt. Rolf van Diffelen wartet, bis sie sich hingesetzt hat. Sie fahre schon „seit zig Jahren“mit dem Bus, erzählt die Frau.

Das sei schon praktisch, gerade, wenn man kein Auto habe oder wie sie sowieso aus dem Alter zum Autofahren raus sei. Rolf van Diffelen spricht das „herrliche Wetter“an, und die Frau antwortet, dass es „mit dem Wind aber doch schon etwas kalt“sei. Nach ein paar Stationen steigt sie aus. Sie muss nicht drücken, Rolf van Diffelen weiß, wo er halten muss. „Bis nächsten Freitag“, ruft er ihr noch hinterher. Und sagt: „Das tut schon gut, wenn man mal ein Schwätzche­n halten kann.“

An der Haltestell­e auf dem Parkplatz von Aldi Süd wartet bereits die nächste Passagieri­n. Rolf van Diffelen lenkt das Fahrzeug um die parkenden Autos herum, und Petra Verhofstad steigt ein. Sie sei selbst 15 Jahre lang immer an einem Vormittag in der Woche ehrenamtli­ch Bürgerbus gefahren, sagt sie, und habe erst vor kurzem damit aufgehört, weil sie jetzt wieder mehr arbeiten müsse. Wenn sie einmal alt sei, dann wolle sie schließlic­h auch, dass jemand den Bus fahre. Darum habe sie sich damals dazu entschiede­n, selbst einzusprin­gen. „Auf dem Dorf funktionie­rt es nur mit Geben und Nehmen, das ist einfach so“, sagt Petra Verhofstad noch. Dann muss auch sie raus.

Um 13.30 Uhr kommt Rolf van Diffelen schließlic­h wieder am Maasweg in Twisteden an. Die Ablöse steht schon bereit. Nur noch schnell die Belege über die verkauften Fahrkarten ausdrucken, dann heißt es aussteigen für den Schichtwec­hsel. Das war’s mit dem Bürgerbus für Rolf van Diffelen. Aber erstmal nur für heute natürlich. Nur bis zum nächsten Freitag.

„Das tut schon gut, wenn man ein Schwätzche­n halten kann“

Rolf van Diffelen Bürgerbusf­ahrer

„Auf dem Dorf funktionie­rt es nur mit Geben und Nehmen, das ist so“

Petra Verhofstad Fahrgast

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FOTO: NORBERT PRÜMEN „Das ist schon eine dolle Angelegenh­eit, der Bürgerbus“, findet Rolf van Diffelen. Seit 20 Jahren ist er nun schon als ehrenamtli­cher Fahrer tätig.

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