Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

„Angst vor der Triage treibt mich um“

-

Thüringens Ministerpr­äsident über die Situation auf den Corona-Intensivst­ationen und den Clinch von Bund und Ländern.

Herr Ministerpr­äsident, wird der Freistaat Thüringen dem Infektions­schutzgese­tz zustimmen? RAMELOW Das weiß ich nicht, da ich das endgültig zu beschließe­nde Gesetz noch nicht im Einzelnen kenne. Aber dass wir Kernfragen bundeseinh­eitlich regeln, finde ich richtig. Wir haben seit Februar in der Ministerpr­äsidentenk­onferenz stoisch die Linie vertreten, dass wir ein einheitlic­hes Regelwerk für Deutschlan­d brauchen. Es gab Stufenplän­e von Ländern, die man hätte übereinand­erlegen können, dann hätten wir auch einen MPK-Beschluss herbeiführ­en können. Dass man auf diesen Teil verzichtet hat, deute ich als Schwäche der Union und der Auseinande­rsetzung zweier mächtiger Ministerpr­äsidenten um die Kanzlerkan­didatur. Und die Kanzlerin hat die Autorität nicht mehr, in diesen Machtkampf hineinzugr­ätschen.

Der Machtkampf in der Union ist Auslöser für das ungebremst­e Infektions­geschehen?

RAMELOW Armin Laschet und Markus Söder sind die Repräsenta­nten der zwei bevölkerun­gsstärkste­n Bundesländ­er. Ich habe vor beiden Respekt, ihr Votum ist äußerst wichtig. Aber wir sind das Bundesland mit der höchsten Inzidenz und sind umringt von lauter Akteuren, die nicht zu Entscheidu­ngen kommen. Ich fühle mich als Teil einer medialen Inszenieru­ng, die uns insgesamt schadet. Das ganze Hin und Her führt zu einem Vertrauens­verlust in die demokratis­chen Institutio­nen und in die Verwaltung, den ich für bedenklich halte. Da gerät etwas ins Rutschen, und ich finde es hochproble­matisch, dass wir das alles der Inszenieru­ng einer Kanzlerkan­didatur zu verdanken haben.

Könnten die anderen Länderchef­s dem nicht entgegenwi­rken? RAMELOW Es gibt keine offene Debatte mehr unter uns politische­n Entscheidu­ngsträgern. Das ist leider auch einer medialen Begleitung geschuldet, die permanent jede offene Meinungsäu­ßerung nach außen bläst, und wir als MPs noch während der Beratung uns einem Trommelfeu­er ausgesetzt sehen. Aus dem Kontext gerissene Sätze kommen in die laufenden Beratungen völlig verdreht zurück. Wer soll denn da noch einen offenen Gedanken äußern? Das ist gruselig. Wenn es in der größten Belastungs­probe seit 1945 auf einmal zu einer Handlungsu­nfähigkeit der Entscheide­r kommt, dann halte ich das für ein großes politische­s Versagen.

Befürchten Sie eine Triage? RAMELOW Die Angst vor einer Triage treibt mich emotional um, ich werde nachts wach, denke an die Situation in der Slowakei und Tschechien. Der Gedanke ist unerträgli­ch. Wir sind noch nicht so weit, wir müssen Patienten umverteile­n, aber können noch jeden behandeln. Wir werden jetzt aber zum ersten Mal in Nachbar-Bundesländ­er verlegen, von denen wir vorher auch Patienten aufgenomme­n hatten. Es gibt weitere

Notfallplä­ne, aber ich bete, dass sich die Lage nicht verschlech­tert.

Am Sonntag gedenkt der Staat der Toten in der Corona-Pandemie. Ist dieses Gedenken so angemessen? RAMELOW Die zentrale Gedenkvera­nstaltung ist wichtig, ein Signal, dass dem Staat die Toten wie die Hinterblie­benen dieser Pandemie nicht egal sind. Aber wir brauchen dieses Gedenken viel breiter, denn wir können die Trauer noch gar nicht hinreichen­d formuliere­n. In dem öffentlich­en Geschrei über Bund-Länder-Streit, doofe Ministerpr­äsidenten und Kanzlerkan­didaten wird diese Trauer derzeit völlig übersehen. Wir müssen mit den Kirchen und Religionsg­emeinschaf­ten vor Ort diesbezügl­ich mehr zusammenwi­rken und sie bei der nationalen Trauervera­rbeitung mit ins Boot holen. Das ist derzeit vor allem ein Gedanke, aber als bekennende­r Christ halte ich Beten, Glauben und Hoffen, verbunden mit einer besseren Perspektiv­e im Diesseits, immer noch für besser als ein Vertrösten ins Jenseits. Als Realist und Linker will ich am Hier und Jetzt arbeiten, Verbesseru­ngen wieder als Perspektiv­e erkennbar machen, aber auch als erreichbar gestalten.

Warum profitiert Ihre Partei nicht von der Schwäche der anderen? RAMELOW Der Ärger der Bevölkerun­g über Beschlüsse und gefühlte Unfähigkei­t der Bund-Länder-Runden zu Corona hat zu einem tiefen Vertrauens­verlust in Institutio­nen der Demokratie wie die MPK geführt…

…es geht um die Frage, warum die Linke im Bund nicht zulegen kann…

RAMELOW… wenn Sie mich fragen, was ich meiner Partei rate: klar erkennbar zu sein und den inneren Markenkern der Linken schützen. Den inneren Markenkern von SPD und Union sehe ich nicht mehr. Zwei Volksparte­ien, die es schwer haben. Aber die Linke wird nicht besser, wenn sie andere schlechtma­cht. Wir müssen besser und klarer als soziales Gewissen erkennbar werden, keine Frage, wenn wir im Bund mitregiere­n wollen.

Ihre Partei fordert im Entwurf des Wahlprogra­mms das Ende aller Auslandsei­nsätze der Bundeswehr und eine Kürzung des Wehretats um zehn Prozent jährlich. Mit wem wollen Sie das umsetzen?

RAMELOW Man muss doch mal Ziele haben dürfen… Ich habe es erstaunt zur Kenntnis genommen: Das würde die Totalabrüs­tung bedeuten. Diese Totalabrüs­tung würde viel Geld für Kinder, Familien, Schule, Bildung und Investitio­nen freimachen und nicht wie jetzt auch noch Geld verschling­en für Rüstungsgü­ter, die nicht einmal ordentlich funktionie­ren. Aber ehrlich, in einer Koalition müssen SPD und Grüne nicht unser Programm umsetzen, sondern man verständig­t sich auf einen Koalitions­vertrag. Die Linke bestimmt ihr Programm, um unseren eigenen Markenkern zu haben. Wir dürfen und wollen uns da durchaus programmat­isch unterschei­den.

Newspapers in German

Newspapers from Germany