Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Was Corona für Studienanf­änger bedeutet

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„Lost“ist das Jugendwort des Jahres 2020. Es beschreibt ein Gefühl, das auch viele Erstsemest­er kennen dürften. Was in Zeiten der Verunsiche­rung Stabilität geben kann, erklärt die Jugendfors­cherin Beate Großegger.

Frau Großegger, was macht die aktuelle Situation mit jungen Erwachsene­n, die jetzt ins Hochschull­eben starten?

BEATE GROSSEGGER Sie verunsiche­rt ungemein. Wir müssen uns auf eine neue Generation an Nesthocker­n einstellen. Der Prozess, selbststän­dig zu werden, verzögert sich. Gerade, wer zum Semesterst­art nicht von zu Hause ausgezogen ist und vielleicht im ländlichen Raum weiter bei den Eltern wohnen bleibt, hat einen Nachteil. Es gibt ja gar keine Möglichkei­t, Anschluss zu finden an die Hochschulk­ultur, an die neue Lern- und Lehrkultur des Studienfac­hs.

Natürlich wird versucht, das über Videovorle­sungen und Onlinesemi­nare zu kompensier­en. Die Technologi­e bleibt aber immer zwischenge­schaltet. Aus Sicht der jungen Menschen kann das nur eine Notlösung sein. Und selbst, wenn man es als positiven Aspekt sieht, dass man etwa finanziell­e Einsparung­en hat, weil man keine eigene Mietwohnun­g finanziere­n muss oder kann – es gibt aufgrund der wirtschaft­lichen Lage dennoch keine Sicherheit bei der Biografie-Planung.

An einigen Standorten finden ja auch Veranstalt­ungen vor Ort statt. Nicht jeder bleibt zu Hause wohnen. Kann man das als die bessere Lösung bezeichnen?

GROSSEGGER Diejenigen, die doch aus dem Elternhaus ausziehen, etwa in eine Großstadt, trifft es genauso. Die Schicksals­gemeinscha­ft, mit der man üblicherwe­ise die bewegenden Themen des Semesterst­arts teilen würde, fehlt. Und die Lage spitzt sich derzeit noch weiter zu. Das löst bei den jungen Erwachsene­n Unsicherhe­it aus. Gleichzeit­ig merken sie, dass in ihrem Umfeld die Corona-Müdigkeit zunimmt. Das Problem überträgt sich von einem zum anderen. Wenn dann noch die Politik nur mit wenig Verbindlic­hkeit Entscheidu­ngen treffen kann – heute ist es so, morgen alles anders – verstärkt sich das Gefühl, nichts planen zu können. Das wirkt auch auf Erwachsene ganz stark, die sind enorm belastet. Und von ihnen und beispielsw­eise den Lehrenden überträgt es sich auf die jungen Menschen. Im Großen und Ganzen herrscht also eine unsichere Grundstimm­ung, das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Die Frage „Wo will ich überhaupt hin?“lässt sich in dieser Zeit für junge Erwachsene kaum beantworte­n.

Als junger Mensch wendet man sich in solchen Situatione­n am ehesten an seine Freunde. Kann man jetzt überhaupt neue Freunde finden? Oder hält man sich besser an die Familie und die Schulfreun­de? GROSSEGGER Die Kernfamili­e und Schulfreun­de geben auf jeden Fall Stabilität. Um sich ein Studienfac­h zu erschließe­n, sollte man sich aber eigentlich mit Kommiliton­en und anderen Personen an der Hochschule vernetzen. Das wird über die Distanz, über eine mehr oder weniger anonym bleibende Gruppe in einer Online-Lehrverans­taltung, sehr schwierig. Da, wo man es eher mit Klassen zu tun hat, an den Fachhochsc­hulen beispielsw­eise, geht es wieder etwas besser. Sobald sich Klassen formiert haben, gibt es auch Whats-App-Gruppen und Austausch. Es muss uns aber gelingen, diese fehlende Vernetzung mit Ende der Pandemie nachzuhole­n. Da müssen auch die Lehrenden dann viel Energie investiere­n und

Gruppenarb­eit sowie Community-Building fördern. Es besteht sonst die Gefahr, dass die Schere zwischen stärkeren und schwächere­n Studierend­en immer größer wird. Im Hörsaal ist es nicht so schlimm, wenn jemand mal kurzfristi­g abschweift. Wenn aber jemand immer wieder aus einer Videoschal­te fliegt, dann ist er weg.

Das klingt alles nach einem gedämpften Semesterst­art. Was wäre trotz allem Ihr Rat? GROSSEGGER Die Einstellun­g, sich vom Virus nicht unterkrieg­en zu lassen, bewährt sich schon positiv. Man muss irgendwie versuchen, nicht daran zu verzweifel­n. Aber das ist ein hartes Stück Arbeit. Es hilft eigentlich nur eine gute Portion stoische Lebensweis­heit: Die Dinge, die man nicht verändern kann, so hinzunehme­n, wie sie sind. Und alles, was man persönlich verändern kann, sofort anzugreife­n.

Zu Beginn der Pandemie gab es zum Beispiel unter den jungen Leuten viele, die für Personen aus den Risikogrup­pen Besorgunge­n erledigt haben. Das ist jetzt ziemlich weggefalle­n. Aber genau das ist so ein Beispiel, wo man mit einem kleinen Beitrag etwas bewegen kann. Wir alle müssen uns jetzt überlegen: Was kann unser Beitrag zur Bewältigun­g der Krise sein?

 ?? FOTO: VRENI ARBES FOTOGRAFIE/DPA-TMN ?? Beate Großegger ist Kommunikat­ionswissen­schaftleri­n am Institut für Jugendkult­urforschun­g in Wien.
FOTO: VRENI ARBES FOTOGRAFIE/DPA-TMN Beate Großegger ist Kommunikat­ionswissen­schaftleri­n am Institut für Jugendkult­urforschun­g in Wien.

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