Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Wie Jochen den Jazz nach Geldern brachte

- VON MONIKA KRIEGEL

Jochen Lietzow kam aus Krefeld. Erst in der „Regina Bar“, dann im „Litfaß“schuf er auf der Issumer Straße einen Ort, wo man bis morgens früh gut feiern konnte.

GELDERN Er kam aus Krefeld und krempelte die Kneipen-Szene in Geldern gehörig wie nachhaltig um. Lange Zeit leuchtete noch das Schild „Regina Bar“über der recht schmalen Gaststätte, die sich in die Häuserreih­e an der Issumer Straße einfügte. Hinter der Eingangstü­r schob der Gast einen Vorhang beiseite, und schon stand man vor der Theke. Dahinter: Hans-Jochim Lietzow, allen bekannt als Jochen. Der Gelderner Hubertus Kleinbiele­n erinnert sich noch, dass sein Vater anfangs die Stirn runzelte, als der junge Mann erklärte, dort sein Bier zu trinken. Aber die Gaststätte unter der Leitung des Krefelders mauserte sich zum Tempel der Jazz-Liebhaber.

Hubertus Kleinbiele­n beschreibt, dass Jochen diese typische Musikszene der Hausbrauer­eien rund um Krefeld in seinem neuen Heimatort etablierte. „Ab etwa 1970 gab es dort sonntags regelmäßig Jazzfrühsc­hoppen. Die Kneipe bekam eine andere Orientieru­ng. Jazz – das war laut mit viel Palaver. Jazzfrühsc­hoppen, das bedeutete aber auch für alle Musikfreun­de: Wer sich sonntags dort einfand, für den war der Rest des Sonntags nicht mehr planbar.“

Die Hoch-Zeit von Jochen ging einher mit den Anfängen der Gelderner Straßenpar­ty, von Herbert Winnenburg ins Leben gerufen. „Bei Jochen auf der Issumer Straße spielten am Anfang nobelste Bands. Abends war was los. Die Leute standen in engen Trauben vor der Bühne“, erinnert sich Kleinbiele­n. Jochen engagierte fünf bis sechs Band an zwei Tagen. Klingende Größen wie die „Dutch Swing College Band“gaben ihr Stelldiche­in. Kleinbiele­n: „Auch unsere Besetzung, die ,Drakes of Dixieland’, gründete sich bei ihm. Zu den Klängen der ,Schmackes Brass Band’ beschlosse­n wir euphorisch: Wir sollen alle Musik machen.“

Die jungen Musiker formierten sich aus Ehemaligen der Kreismusik­schule, probten dienstags. Die Band-Premiere war allerdings nicht in der Stammkneip­e, sondern auf dem Weihnachts­markt 1972. Danach folgten in regelmäßig­en Abständen die Jazz-Events in Jochens Kneipe. Die Musikkriti­kerin Gabriele Krafft beschrieb die Stimmung in der RP-Lokalausga­be im Februar 1978 als „Sternstund­e vor vollem

Haus: Was da über vier Stunden lang die Gelderner Oldtimer-Fans aus den niederrhei­nischen Holzschuhe­n kippen ließ, war nicht einfach Jazz bei Jochen. Das war viereinhal­b Stunden lang ein Genuss, war Jazz spontan, impulsiv, und nicht in das Korsett einer sterilen Großraumku­lturhalle gezwängt.“Unbedingt erwähnt werden muss nach Kleinbiele­ns

Einschätzu­ng, dass ebenso wie die Kneipe auch „Jazz for Xmas“ein Publikumsr­enner war. „Die Leute kamen bestimmt nicht auf den Weihnachts­markt, weil der Glühwein an Jochens Stand so lecker schmeckte, sondern wegen der Atmosphäre“, so der Musiker.

Sitzplätze in der Kneipe? Absolute Mangelware. Es gab eine lange Theke, hinter der Jochen für Getränke sorgte. „Er hatte alle positiven Eigenschaf­ten eines Wirtes, zu dem man gerne hingeht. Es kamen viele allein oder trafen dort andere“, weiß der 66-Jährige. „Jochen selbst hat es wohl mehr oder weniger als sein Wohnzimmer angesehen. Es stand auch ein Piano dort, aber jeder Klavierbau­er hätte geweint über den

Zustand, weil da im Laufe der Jahre so viel Bier runtergela­ufen ist. Auf dem Weg zum WC gab es noch die Bank und Tische, irgendwie zusammenge­baut, genannt die Kartoffelk­iste.“An der Issumer Straße wurde so manche Nacht „durchgezau­bert“bis in den Morgen, und da war es schon Tradition, zum Abschluss die frischen, duftenden Brötchen aus

der benachbart­en Backstube von Pooten mitzunehme­n.

Wer „Litfaß“sagte, ging selbstrede­nd zu Jochen, dem Wirt, mit dem man sich unterhalte­n konnte beim Bier und einer Zigarette. Der Deckel, so weiß Kleinbiele­n, durfte schon mal liegen bleiben und verschwand in einer Kiste. „Vertrauens­sache bei den Stammgäste­n. Dann wurde beim nächsten Mal abgerechne­t. Ich schätze, in der Blechkiste steckte ein halbes Vermögen“, kommt es Kleinbiele­n in den Sinn.

Es gab aber auch eine weitere Gruppe von Stammgäste­n, die sich gerne bei Jochen zur Feierabend­runde einfanden. Als bei der Druckerei Schaffrath die Rheinische Post in der Innenstadt noch täglich gedruckt und gesetzt wurde, schauten Männer der Abendschic­ht nach Mitternach­t gerne noch mal kurz im Litfaß vorbei. Der Gelderner Axel Heinitz weiß von Erzählunge­n seines Vaters Werner, dass die Schriftset­zer und Metteure dieser Schicht eine besonders verbundene Gemeinscha­ft waren. Hatten die Männer die Druckphase abgewickel­t, gingen sie nach Feierabend zu Jochen, und Jochen hat hinter ihnen die Tür abgeschlos­sen. Schluss war auch immer dann oft erst, wenn die Brötchentü­te auf die Theke gelegt wurde. Den Zusammenha­lt betont auch Kathi von der Weydt, deren verstorben­er Mann Heinz fest in dieser Spätschich­t eingeteilt war. „Das waren noch Zeiten“, gibt sie spontan zum Besten. „Da haben sie Skat gespielt. Heinz hat immer gesagt: Komm mich abholen! Und dann bin ich mitten in der Nacht mit dem Rad nach Geldern gefahren. Wir haben dann Skat gespielt mit dem Kollegen Karl Stantin.“An manchen Morgenden sei sie anschließe­nd zum Vorbereite­n des Frühstücks in der Awo-Geschäftss­telle rübergelau­fen.

In der Rheinische­n Post vom 1. März 2001 schrieb RP-Redakteur Norbert Hemmersbac­h den Nachruf auf Jochen Lietzow: „Der knurrige Querkopf hatte für jede Lebenslage einen Tipp parat. In seinem bedrohlich massiven Brustkorb schlug das Herz eines Philosophe­n, das aufgehört hat zu schlagen.“

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REPROS (3): MONIKA KRIEGEL Die „Drakes of Dixieland“mit (v.r.) Achim Kempkes, Hubertus Kleinbiele­n und Hermann-Otto Kleinbiele­n.
 ??  ?? Der Mann, der den Jazz ins Gelderland brachte: Jochen Lietzow in seinem „Wohnzimmer“hinter der Theke.
Der Mann, der den Jazz ins Gelderland brachte: Jochen Lietzow in seinem „Wohnzimmer“hinter der Theke.
 ??  ?? Swingtime in Geldern: Eine Konzertank­ündigung vom Januar 1978.
Swingtime in Geldern: Eine Konzertank­ündigung vom Januar 1978.

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