Rheinische Post - Geldern an Kevelaer
Wie Jochen den Jazz nach Geldern brachte
Jochen Lietzow kam aus Krefeld. Erst in der „Regina Bar“, dann im „Litfaß“schuf er auf der Issumer Straße einen Ort, wo man bis morgens früh gut feiern konnte.
GELDERN Er kam aus Krefeld und krempelte die Kneipen-Szene in Geldern gehörig wie nachhaltig um. Lange Zeit leuchtete noch das Schild „Regina Bar“über der recht schmalen Gaststätte, die sich in die Häuserreihe an der Issumer Straße einfügte. Hinter der Eingangstür schob der Gast einen Vorhang beiseite, und schon stand man vor der Theke. Dahinter: Hans-Jochim Lietzow, allen bekannt als Jochen. Der Gelderner Hubertus Kleinbielen erinnert sich noch, dass sein Vater anfangs die Stirn runzelte, als der junge Mann erklärte, dort sein Bier zu trinken. Aber die Gaststätte unter der Leitung des Krefelders mauserte sich zum Tempel der Jazz-Liebhaber.
Hubertus Kleinbielen beschreibt, dass Jochen diese typische Musikszene der Hausbrauereien rund um Krefeld in seinem neuen Heimatort etablierte. „Ab etwa 1970 gab es dort sonntags regelmäßig Jazzfrühschoppen. Die Kneipe bekam eine andere Orientierung. Jazz – das war laut mit viel Palaver. Jazzfrühschoppen, das bedeutete aber auch für alle Musikfreunde: Wer sich sonntags dort einfand, für den war der Rest des Sonntags nicht mehr planbar.“
Die Hoch-Zeit von Jochen ging einher mit den Anfängen der Gelderner Straßenparty, von Herbert Winnenburg ins Leben gerufen. „Bei Jochen auf der Issumer Straße spielten am Anfang nobelste Bands. Abends war was los. Die Leute standen in engen Trauben vor der Bühne“, erinnert sich Kleinbielen. Jochen engagierte fünf bis sechs Band an zwei Tagen. Klingende Größen wie die „Dutch Swing College Band“gaben ihr Stelldichein. Kleinbielen: „Auch unsere Besetzung, die ,Drakes of Dixieland’, gründete sich bei ihm. Zu den Klängen der ,Schmackes Brass Band’ beschlossen wir euphorisch: Wir sollen alle Musik machen.“
Die jungen Musiker formierten sich aus Ehemaligen der Kreismusikschule, probten dienstags. Die Band-Premiere war allerdings nicht in der Stammkneipe, sondern auf dem Weihnachtsmarkt 1972. Danach folgten in regelmäßigen Abständen die Jazz-Events in Jochens Kneipe. Die Musikkritikerin Gabriele Krafft beschrieb die Stimmung in der RP-Lokalausgabe im Februar 1978 als „Sternstunde vor vollem
Haus: Was da über vier Stunden lang die Gelderner Oldtimer-Fans aus den niederrheinischen Holzschuhen kippen ließ, war nicht einfach Jazz bei Jochen. Das war viereinhalb Stunden lang ein Genuss, war Jazz spontan, impulsiv, und nicht in das Korsett einer sterilen Großraumkulturhalle gezwängt.“Unbedingt erwähnt werden muss nach Kleinbielens
Einschätzung, dass ebenso wie die Kneipe auch „Jazz for Xmas“ein Publikumsrenner war. „Die Leute kamen bestimmt nicht auf den Weihnachtsmarkt, weil der Glühwein an Jochens Stand so lecker schmeckte, sondern wegen der Atmosphäre“, so der Musiker.
Sitzplätze in der Kneipe? Absolute Mangelware. Es gab eine lange Theke, hinter der Jochen für Getränke sorgte. „Er hatte alle positiven Eigenschaften eines Wirtes, zu dem man gerne hingeht. Es kamen viele allein oder trafen dort andere“, weiß der 66-Jährige. „Jochen selbst hat es wohl mehr oder weniger als sein Wohnzimmer angesehen. Es stand auch ein Piano dort, aber jeder Klavierbauer hätte geweint über den
Zustand, weil da im Laufe der Jahre so viel Bier runtergelaufen ist. Auf dem Weg zum WC gab es noch die Bank und Tische, irgendwie zusammengebaut, genannt die Kartoffelkiste.“An der Issumer Straße wurde so manche Nacht „durchgezaubert“bis in den Morgen, und da war es schon Tradition, zum Abschluss die frischen, duftenden Brötchen aus
der benachbarten Backstube von Pooten mitzunehmen.
Wer „Litfaß“sagte, ging selbstredend zu Jochen, dem Wirt, mit dem man sich unterhalten konnte beim Bier und einer Zigarette. Der Deckel, so weiß Kleinbielen, durfte schon mal liegen bleiben und verschwand in einer Kiste. „Vertrauenssache bei den Stammgästen. Dann wurde beim nächsten Mal abgerechnet. Ich schätze, in der Blechkiste steckte ein halbes Vermögen“, kommt es Kleinbielen in den Sinn.
Es gab aber auch eine weitere Gruppe von Stammgästen, die sich gerne bei Jochen zur Feierabendrunde einfanden. Als bei der Druckerei Schaffrath die Rheinische Post in der Innenstadt noch täglich gedruckt und gesetzt wurde, schauten Männer der Abendschicht nach Mitternacht gerne noch mal kurz im Litfaß vorbei. Der Gelderner Axel Heinitz weiß von Erzählungen seines Vaters Werner, dass die Schriftsetzer und Metteure dieser Schicht eine besonders verbundene Gemeinschaft waren. Hatten die Männer die Druckphase abgewickelt, gingen sie nach Feierabend zu Jochen, und Jochen hat hinter ihnen die Tür abgeschlossen. Schluss war auch immer dann oft erst, wenn die Brötchentüte auf die Theke gelegt wurde. Den Zusammenhalt betont auch Kathi von der Weydt, deren verstorbener Mann Heinz fest in dieser Spätschicht eingeteilt war. „Das waren noch Zeiten“, gibt sie spontan zum Besten. „Da haben sie Skat gespielt. Heinz hat immer gesagt: Komm mich abholen! Und dann bin ich mitten in der Nacht mit dem Rad nach Geldern gefahren. Wir haben dann Skat gespielt mit dem Kollegen Karl Stantin.“An manchen Morgenden sei sie anschließend zum Vorbereiten des Frühstücks in der Awo-Geschäftsstelle rübergelaufen.
In der Rheinischen Post vom 1. März 2001 schrieb RP-Redakteur Norbert Hemmersbach den Nachruf auf Jochen Lietzow: „Der knurrige Querkopf hatte für jede Lebenslage einen Tipp parat. In seinem bedrohlich massiven Brustkorb schlug das Herz eines Philosophen, das aufgehört hat zu schlagen.“