Rheinische Post - Geldern an Kevelaer
Der digitale Zwilling fliegt mit
Die Luftfahrtbranche macht gerade ihre größte Krise seit der Nachkriegszeit durch. Im Hintergrund wird fieberhaft an der Digitalisierung rund um den Flugverkehr gearbeitet. Ziel ist es, das Fliegen sauberer, pünktlicher und sicherer zu gestalten.
Flughafen Zürich: Nur zwei Bushaltestellen von den Terminals entfernt arbeitet Marcus di Laurenzio in einem schlichten Zweckbau der Fluggesellschaft Swiss. Der Mittfünfziger sitzt vor einem riesigen Computerbildschirm. Zu sehen sind Dutzende kleine bunte Dreiecke, bei denen es sich um Maschinen der Airline handelt. Ruckartig und scheinbar wahllos bewegen sie sich in alle Himmelsrichtungen über eine Europakarte.
Der IT-Ingenieur in der schwarzen Fleece-Jacke mit rotem Swiss-Logo leitet das digitale Vorzeigeprojekt „Aviatar“. Diesen digitalen Zwilling oder „Aviatar“, in Anlehnung an das Hollywood-Epos Avatar, haben die Schweizer gemeinsam mit dem Mutterkonzern Lufthansa entwickelt – ein Portal, das die vorausschauende Wartung und Analyse der Flugverkehrsdaten anbietet.
Di Laurenzio lässt mit einem Mausklick auf seinem Bildschirm die technischen Details des „echten“Fliegers erscheinen. Sämtliche Statusund Warnmeldungen für die gesamte fliegende Swiss-Flotte werden sichtbar. Dahinter verbergen sich detaillierte Wartungsberichte, selbst die Betriebstemperaturen der Motoren werden angezeigt. Vor allem aber werden Lösungen vorgeschlagen wie etwa für eine ausgefallene Ölpumpe. Was hier auf den ersten Blick einfach aussieht, wurde jahrelang programmiert, mit Datenmaterial gefüttert und künstlicher Intelligenz analysiert.
„Die Plattform ist eine Abbildung unserer Flotte“, erklärt der Ingenieur. Jedes Flugzeug hat enorm viele Sensoren, moderne Jets um die 25.000. Sie messen unter anderem Bewegungen, Füllstände und Flugaktionen.
Ein virtueller Sensor nimmt alle verfügbaren Daten, die zum Beispiel die realen Druck-, Umdrehungsoder Feuchtigkeitssensoren
im Flugzeug liefern. Daraus wird ein sogenannter dritter Wert errechnet. Zum Beispiel messen Sensoren die Umdrehungszahl eines Rades und die Temperatur im Radkasten bei Start und Landung. Der virtuelle Sensor berechnet dann mathematisch den Reifendruck. Dadurch lässt sich vorhersagen, wann ein Radwechsel nötig sein wird. Ein virtueller Sensor ist also kein Gerät oder Objekt, das man in die Hand nehmen kann. Es ist eine Methode, mit deren Hilfe man zu Ergebnissen kommt. Ergebnisse, zu denen man mit physischen Sensoren nicht gelangen würde.
Seit zehn Jahren arbeitet di Laurenzio mit rund 30 Kollegen für die Swiss an „Aviatar“: Während das echte Flugzeug in der Luft ist, bildet sein digitaler Zwilling ein riesiges Datenpaket auf dem Server am Boden ab, zeigt sozusagen den Gesundheitszustand eines Flugzeuges. Das Tolle dabei: Man kann damit praktisch simulieren, wie es beispielsweise den Triebwerken nach 100 Flügen gehen dürfte – und somit fast einen Blick in die Zukunft der Maschine werfen. Das sagt Anne Zilles vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt in Köln: „Ziel ist es, den optimalen Zeitpunkt für eine Instandhaltungsmaßnahme – zum Beispiel für den Austausch der Komponente – zu identifizieren. Das heißt, man möchte die Lebensdauer der Komponente optimal ausnutzen, bevor diese ausfällt.“
Keine schlechten Aussichten also für digitale Zwillinge in der europäischen Luftfahrt – auch in Sachen Klimaschutz. Auch wenn die Luftfahrt mit knapp drei Prozent nur einen kleinen Anteil zum weltweiten Ausstoß des Treibhausgases CO2 beiträgt. Im Rahmen des Green Deal der EU-Kommission ist unter anderem eine Reduzierung der Emissionen im Transport von 90 Prozent angestrebt. Nur eine radikale Digitalisierung sei effektiv, erklärt Zilles: „Dieser Weg hin zu einer ökoeffizienten und klimaverträglichen Luftfahrt bedarf radikaler Technologien in allen Bereichen.“
Finden Know-how im Flugverkehr und IT-Wissen so zusammen, könnten jährlich mehrere Millionen Euro pro Maschine eingespart werden. Wahrscheinlich sogar mehr, sagt Diego Oppenheim, Kommunikationschef für die Technik der Swiss. So koste der Ausfall eines Generators, der für die Stromversorgung eines Jets verantwortlich ist, einige Millionen: „Dann steht das Flugzeug am Boden. Das heißt, es generiert kein Geld in dieser Zeit.“
Parallel arbeiten auch Boeing und Airbus an eigenen Datenportalen mit smarten Analysetools. Auch sie wollen digitale Helfer anbieten. Kritisch sehen das besonders die Wartungsunternehmen: Sie werfen den Flugzeugbauern vor, in ihrem Revier zu wildern. Schließlich läge das technische Know-how bei den Wartungsprofis.
Digitale Dienste im Umfeld der Flugzeugwartung haben einen Markt mit immensen Wachstumsperspektiven, davon ist Roland Gerhards überzeugt. Als Ingenieur und Chef des Zentrums für angewandte Luftfahrtforschung in Hamburg begrüßt Gerhards den Wettlauf um die Datenhoheit: „Das ist erst einmal nicht schlecht. Und da möge der Bessere gewinnen, oder man hat nachher mehrere Lösungen, die parallel laufen.“Allerdings sieht Gerhards auch Probleme, wenn es darum geht, etwas abzugeben – zum Beispiel Daten und Erfahrungen zu teilen. Aber da sei laut Gerhards bei den Großen der Branche wie Airbus, Boeing, Lufthansa und Co. im Augenblick nur wenig Bereitschaft zu erkennen: „Da sagt natürlich jeder, ihm gehören die Daten. Die Airline sagt: Das ist mein Flugzeug, meine Daten. Dann sagt der Hersteller: Na ja, mein Flugzeug, ich hab‘s ja mal gebaut. Dann sagt der Zulieferer: Na ja, ist aber mein Fahrwerk.“
Am Ende kann eine komplette Digitalisierung nur funktionieren, wenn man sich austauscht und einen Weg findet, dass der Austausch einen Mehrwert bringt und dass dann ein Businessmodell entsteht. Gerhards vermutet, dass es einen neutralen Plattformbetreiber geben werde, der die Daten sammelt und dafür bezahle, um sie anschließend zu verkaufen. Vertrauen sei dabei wichtig. Das sei ein Trend und die Möglichkeit, um juristische Vorbehalte auszuräumen.
Die Digitalisierung bietet eben nicht nur Chancen, sondern bedeutet auch zuvor unbekannte Herausforderungen. Egal ob Luftfahrt oder Automobilindustrie – es müssen viele Bedingungen geklärt werden. Smarte Technologien allein werden nicht ausreichen, das Fliegen sicherer, pünktlicher und sauberer zu gestalten.