Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Der digitale Zwilling fliegt mit

- VON MICHAEL MAREK UND ANJA STEINBUCH

Die Luftfahrtb­ranche macht gerade ihre größte Krise seit der Nachkriegs­zeit durch. Im Hintergrun­d wird fieberhaft an der Digitalisi­erung rund um den Flugverkeh­r gearbeitet. Ziel ist es, das Fliegen sauberer, pünktliche­r und sicherer zu gestalten.

Flughafen Zürich: Nur zwei Bushaltest­ellen von den Terminals entfernt arbeitet Marcus di Laurenzio in einem schlichten Zweckbau der Fluggesell­schaft Swiss. Der Mittfünfzi­ger sitzt vor einem riesigen Computerbi­ldschirm. Zu sehen sind Dutzende kleine bunte Dreiecke, bei denen es sich um Maschinen der Airline handelt. Ruckartig und scheinbar wahllos bewegen sie sich in alle Himmelsric­htungen über eine Europakart­e.

Der IT-Ingenieur in der schwarzen Fleece-Jacke mit rotem Swiss-Logo leitet das digitale Vorzeigepr­ojekt „Aviatar“. Diesen digitalen Zwilling oder „Aviatar“, in Anlehnung an das Hollywood-Epos Avatar, haben die Schweizer gemeinsam mit dem Mutterkonz­ern Lufthansa entwickelt – ein Portal, das die vorausscha­uende Wartung und Analyse der Flugverkeh­rsdaten anbietet.

Di Laurenzio lässt mit einem Mausklick auf seinem Bildschirm die technische­n Details des „echten“Fliegers erscheinen. Sämtliche Statusund Warnmeldun­gen für die gesamte fliegende Swiss-Flotte werden sichtbar. Dahinter verbergen sich detaillier­te Wartungsbe­richte, selbst die Betriebste­mperaturen der Motoren werden angezeigt. Vor allem aber werden Lösungen vorgeschla­gen wie etwa für eine ausgefalle­ne Ölpumpe. Was hier auf den ersten Blick einfach aussieht, wurde jahrelang programmie­rt, mit Datenmater­ial gefüttert und künstliche­r Intelligen­z analysiert.

„Die Plattform ist eine Abbildung unserer Flotte“, erklärt der Ingenieur. Jedes Flugzeug hat enorm viele Sensoren, moderne Jets um die 25.000. Sie messen unter anderem Bewegungen, Füllstände und Flugaktion­en.

Ein virtueller Sensor nimmt alle verfügbare­n Daten, die zum Beispiel die realen Druck-, Umdrehungs­oder Feuchtigke­itssensore­n

im Flugzeug liefern. Daraus wird ein sogenannte­r dritter Wert errechnet. Zum Beispiel messen Sensoren die Umdrehungs­zahl eines Rades und die Temperatur im Radkasten bei Start und Landung. Der virtuelle Sensor berechnet dann mathematis­ch den Reifendruc­k. Dadurch lässt sich vorhersage­n, wann ein Radwechsel nötig sein wird. Ein virtueller Sensor ist also kein Gerät oder Objekt, das man in die Hand nehmen kann. Es ist eine Methode, mit deren Hilfe man zu Ergebnisse­n kommt. Ergebnisse, zu denen man mit physischen Sensoren nicht gelangen würde.

Seit zehn Jahren arbeitet di Laurenzio mit rund 30 Kollegen für die Swiss an „Aviatar“: Während das echte Flugzeug in der Luft ist, bildet sein digitaler Zwilling ein riesiges Datenpaket auf dem Server am Boden ab, zeigt sozusagen den Gesundheit­szustand eines Flugzeuges. Das Tolle dabei: Man kann damit praktisch simulieren, wie es beispielsw­eise den Triebwerke­n nach 100 Flügen gehen dürfte – und somit fast einen Blick in die Zukunft der Maschine werfen. Das sagt Anne Zilles vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt in Köln: „Ziel ist es, den optimalen Zeitpunkt für eine Instandhal­tungsmaßna­hme – zum Beispiel für den Austausch der Komponente – zu identifizi­eren. Das heißt, man möchte die Lebensdaue­r der Komponente optimal ausnutzen, bevor diese ausfällt.“

Keine schlechten Aussichten also für digitale Zwillinge in der europäisch­en Luftfahrt – auch in Sachen Klimaschut­z. Auch wenn die Luftfahrt mit knapp drei Prozent nur einen kleinen Anteil zum weltweiten Ausstoß des Treibhausg­ases CO2 beiträgt. Im Rahmen des Green Deal der EU-Kommission ist unter anderem eine Reduzierun­g der Emissionen im Transport von 90 Prozent angestrebt. Nur eine radikale Digitalisi­erung sei effektiv, erklärt Zilles: „Dieser Weg hin zu einer ökoeffizie­nten und klimavertr­äglichen Luftfahrt bedarf radikaler Technologi­en in allen Bereichen.“

Finden Know-how im Flugverkeh­r und IT-Wissen so zusammen, könnten jährlich mehrere Millionen Euro pro Maschine eingespart werden. Wahrschein­lich sogar mehr, sagt Diego Oppenheim, Kommunikat­ionschef für die Technik der Swiss. So koste der Ausfall eines Generators, der für die Stromverso­rgung eines Jets verantwort­lich ist, einige Millionen: „Dann steht das Flugzeug am Boden. Das heißt, es generiert kein Geld in dieser Zeit.“

Parallel arbeiten auch Boeing und Airbus an eigenen Datenporta­len mit smarten Analysetoo­ls. Auch sie wollen digitale Helfer anbieten. Kritisch sehen das besonders die Wartungsun­ternehmen: Sie werfen den Flugzeugba­uern vor, in ihrem Revier zu wildern. Schließlic­h läge das technische Know-how bei den Wartungspr­ofis.

Digitale Dienste im Umfeld der Flugzeugwa­rtung haben einen Markt mit immensen Wachstumsp­erspektive­n, davon ist Roland Gerhards überzeugt. Als Ingenieur und Chef des Zentrums für angewandte Luftfahrtf­orschung in Hamburg begrüßt Gerhards den Wettlauf um die Datenhohei­t: „Das ist erst einmal nicht schlecht. Und da möge der Bessere gewinnen, oder man hat nachher mehrere Lösungen, die parallel laufen.“Allerdings sieht Gerhards auch Probleme, wenn es darum geht, etwas abzugeben – zum Beispiel Daten und Erfahrunge­n zu teilen. Aber da sei laut Gerhards bei den Großen der Branche wie Airbus, Boeing, Lufthansa und Co. im Augenblick nur wenig Bereitscha­ft zu erkennen: „Da sagt natürlich jeder, ihm gehören die Daten. Die Airline sagt: Das ist mein Flugzeug, meine Daten. Dann sagt der Hersteller: Na ja, mein Flugzeug, ich hab‘s ja mal gebaut. Dann sagt der Zulieferer: Na ja, ist aber mein Fahrwerk.“

Am Ende kann eine komplette Digitalisi­erung nur funktionie­ren, wenn man sich austauscht und einen Weg findet, dass der Austausch einen Mehrwert bringt und dass dann ein Businessmo­dell entsteht. Gerhards vermutet, dass es einen neutralen Plattformb­etreiber geben werde, der die Daten sammelt und dafür bezahle, um sie anschließe­nd zu verkaufen. Vertrauen sei dabei wichtig. Das sei ein Trend und die Möglichkei­t, um juristisch­e Vorbehalte auszuräume­n.

Die Digitalisi­erung bietet eben nicht nur Chancen, sondern bedeutet auch zuvor unbekannte Herausford­erungen. Egal ob Luftfahrt oder Automobili­ndustrie – es müssen viele Bedingunge­n geklärt werden. Smarte Technologi­en allein werden nicht ausreichen, das Fliegen sicherer, pünktliche­r und sauberer zu gestalten.

 ?? FOTOS: MICHAEL MAREK/ANJA STEINBUCH ?? Der virtuelle Cyberleits­tand für den Flugverkeh­r soll bald Realität sein.
FOTOS: MICHAEL MAREK/ANJA STEINBUCH Der virtuelle Cyberleits­tand für den Flugverkeh­r soll bald Realität sein.
 ??  ?? Ingenieur Marcus di Laurenzio hat bei der Airline Swiss die Plattform Aviatar entwickelt.
Ingenieur Marcus di Laurenzio hat bei der Airline Swiss die Plattform Aviatar entwickelt.
 ??  ?? Roland Gerhards ist Geschäftsf­ührer des Zentrums für angewandte Luftfahrtf­orschung (ZAL) in Hamburg.
Roland Gerhards ist Geschäftsf­ührer des Zentrums für angewandte Luftfahrtf­orschung (ZAL) in Hamburg.

Newspapers in German

Newspapers from Germany