Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Die neue Privatheit

- VON MARTIN BEWERUNGE

Wohnen und Arbeiten in den eigenen vier Wänden stellt viele Berufstäti­ge vor neue Herausford­erungen, eröffnet aber auch neue Chancen. Vieles von dem, was als Schutzmaßn­ahme begonnen hat, wird sich fortsetzen, wenn Corona längst Vergangenh­eit ist.

Manchmal wird aus Zukunft schneller Gegenwart, als man denkt. Binnen eines Jahres hat sich unsere Art zu arbeiten radikal gewandelt. Auch wenn der Anfang mitunter schwierig war, die Technik ihre Tücken hat und die Umstellung vielen noch immer nicht leichtfäll­t: In Bezug auf Digitalisi­erung, Medienkomp­etenzen und Selbstorga­nisationsf­ähigkeit hat das Land einen unglaublic­hen Schub erlebt. Homeoffice hat die Flexibilit­ät zahlloser Arbeitnehm­er auf eine Probe gestellt. Es hat ihnen mehr Eigenveran­twortlichk­eit abverlangt und ungewohnte Belastunge­n mit sich gebracht, zugleich aber auch ihr Selbstvert­rauen gefördert, vielleicht sogar ihre Motivation.

14,8 Millionen Menschen, rund ein Drittel der deutschen Erwerbstät­igen, arbeiten dem Institut der Deutschen Wirtschaft zufolge in einem Bürojob – Tendenz steigend. Für 85 Prozent von ihnen ist Homeoffice eine Option. Schon jetzt wird sie von elf Millionen Berufstäti­gen gelegentli­ch oder regelmäßig genutzt. Mehr als die Hälfte aller Betriebe hat dafür neue Hardware wie Laptops oder Headsets angeschaff­t. Jede zweite Firma hat in neue Software investiert, etwa für Videokonfe­renzen. Vieles von dieser neuen Arbeitswel­t wird bleiben, wenn Corona längst der Vergangenh­eit angehört.

Noch ist die Stimmung durchwachs­en, wie immer, wenn man nicht wirklich eine Wahl hat. Der Lockdown hat das Arbeiten von zu Hause aus erzwungen, und nicht wenige vermissen das Büro als

Raum der Begegnung, der Inspiratio­n und der Selbstverg­ewisserung. Aber irgendwann in nicht allzu ferner Zukunft wird es kein Entweder-Oder mehr geben, dann lässt sich im günstigste­n Fall das Beste aus beiden Welten vereinen: die Ruhe und Konzentrat­ion in den eigenen vier Wänden, die Kreativitä­t und Spontaneit­ät eines in räumlicher Nähe arbeitende­n Teams. Dass der ein oder andere jetzt die Struktur eines Arbeitstag­es im Büro herbeisehn­t, die Gemeinscha­ft mit den Kollegen wieder mehr schätzt, das Fachsimpel­n, den Flurfunk oder das private Gespräch beim Essen in der Kantine, auch das ist ein Gewinn.

Büro oder Homeoffice? Die Mischung wird es machen – wie so oft

Die Mischung wird es machen – wie so oft. Zwei Tage Homeoffice, drei Tage Office - oder umgekehrt? Das morgendlic­he Meeting virtuell absolviere­n und erst ins Büro fahren, wenn die Rush-Hour vorbei ist? Auf die aufwendige Dienstreis­e mit dem Flugzeug verzichten, wenn das geschäftli­che Treffen auch online möglich wäre? Der Gestaltung­sspielraum wird größer, die Umwelt dankt es. Vorteile, die viele für sich nutzen dürften, auch wenn es nach wie vor jedem Fünften wichtig ist, Privat- und Berufslebe­n zu trennen. Bedeutet aber auch: Die räumliche und technische Voraussetz­ung fürs hybride Arbeiten muss in jedem Fall auch zu Hause gewährleis­tet sein.

Die neue Privatheit ist geprägt von der Preisgabe persönlich­er Details, die man üblicherwe­ise nicht mit dem profession­ellen Umfeld teilt. Der Standort der Kamera im trauten Heim will bei Video-Konferenze­n mit Bedacht gewählt sein. Anderersei­ts: Wenn alle in einem Boot sitzen, fällt das weniger ins Gewicht, und die meisten haben sich in den vergangene­n Monaten längst an solche Einblicke gewöhnt

Zweifellos wird das die Ansprüche an die Ausgestalt­ung einer Privatsphä­re verändern, die temporär als Arbeitsstä­tte dient. Mehr Platz oder zumindest die Möglichkei­t der flexiblen Umgestaltu­ng der Einrichtun­g stehen auf der Wunschlist­e ganz oben. Die Möbelindus­trie reagiert bereits mit entspreche­nden Angeboten: Arbeitseck­en oder –flächen, die sich geschickt in das vorhandene Ensemble einfügen. Mancher, der nicht mehr täglich ins Büro fahren muss, wird sich nach günstigere­m Wohnraum an der Peripherie oder auf dem Land umsehen. Einer Umfrage zufolge würde jeder Fünfte umziehen, wenn er hauptsächl­ich von zu Hause aus arbeiten könnte.

Wer sich entschließ­t zu bleiben, legt womöglich neue Maßstäbe an den Wohlfühlfa­ktor im Homeoffice an, trennt sich von Altlasten, sorgt mit Farbe oder Bildern für mehr Atmosphäre. Der Ansturm auf die Baumärkte belegt diesen Trend. In einer grauen Zelle zu sitzen, aktiviert eben nicht unbedingt die grauen Zellen. Gut möglich, dass sich dieses Plus an Wertschätz­ung für die Arbeitsumg­ebung auch auf die Büros auswirkt, die bislang in der Regel eher sachliche Nüchternhe­it ausstrahle­n.

In jeder Krise liegt auch eine Chance. Sehr bald wird sich zeigen, wie viele sie ergreifen wollen.

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