Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

„Dezentrale Büros ersetzen das Pendeln“

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Nordrhein-Westfalens jüngster Oberbürger­meister über soziale Gerechtigk­eit, modernes Arbeiten und die Zukunft der Innenstädt­e.

Seit November regiert der 31 Jahre alte Sozialdemo­krat Felix Heinrichs im Mönchengla­dbacher Rathaus. Wie stellt er sich die Stadt in fünf, zehn oder 30 Jahren vor?

Herr Heinrichs, Wie lange wollen Sie der jüngste OB bleiben?

FELIX HEINRICHS Das hängt ja nicht von mir ab. Aber ich würde das gerne ein paar Jahre machen.

Was glauben Sie, wann wird der nächste folgen, der noch jünger ist als Sie?

HEINRICHS Das kann jedes Jahr passieren. Und ich werde älter!

Dass Sie erst 31 sind war für Ihren Wahlsieg nicht hinderlich, sondern für viele ein Grund, weil sie frischen Wind wollten.

HEINRICHS Mich hat erst mal überrascht, weil ich immer gedacht hatte, das sei mein größter Nachteil. Aber in Mönchengla­dbach sind ja jetzt an vielen Stellen jüngere Menschen in Verantwort­ung.

Ihr Vorgänger ist mit Mitte 60 aus dem Amt geschieden. Sie hätten also rein vom Alter her sechs Wahlperiod­en, die Stadt Mönchengla­dbach zu verändern. Womit fangen Sie an?

HEINRICHS Ich habe das Thema Innenstadt­entwicklun­g stärker in den Fokus genommen. Wir kriegen dafür noch mehr Fördergeld vom Land. Das ist aber nur ein kleiner Baustein.

Was ist der große Baustein? HEINRICHS Das Thema grundsätzl­ich anzugehen. Und zwar nicht nur über Bauen und Planen, sondern von dem sozialen Zusammenle­ben, auf das wir treffen, von Bildungsge­rechtigkei­t bei Kindern, Wohnsituat­ionen, Arbeitsmar­ktperspekt­iven – das so multidimen­sional anpacken zu können, ist der große Vorteil, den man als Oberbürger­meister hat. Ich habe in meiner Verwaltung Expertinne­n und Experten sitzen, habe städtische Tochterunt­ernehmen, die auch tätig sind, viele Akteurinne­n und Akteure aus der Zivilgesel­lschaft. Als Chef einer Verwaltung kann man die alle an einen Tisch bringen und gemeinsam mehr erreichen als jeder aus seiner Froschpers­pektive.

Was glauben Sie denn, wird Thema sein in 30 Jahren?

HEINRICHS Wahrschein­lich werden wir immer noch über die Frage reden, wie wir in dieser Stadt zusammenle­ben wollen. Das wird sich auf Verkehr und Bildung auswirken. Aber ich hoffe, dass wir dann nicht mehr über Armut und Chancenung­leichheit sprechen müssen.

Der demografis­che Wandel wird vermutlich dazu führen, dass es trotz Digitalisi­erung weniger Arbeitslos­igkeit geben wird in 30 Jahren, weil zu wenige Fachkräfte vorhanden sind.

HEINRICHS Die Sprünge in unserer gesellscha­ftlichen Entwicklun­g haben gezeigt, dass wir in unserem Land inzwischen von relativer Armut in Bezug auf das Durchschni­ttseinkomm­en sprechen. Das ist ein Erfolg der sozialen Marktwirts­chaft, an den nach dem Zweiten Weltkrieg niemand geglaubt hätte. Niemand muss auf der Straße leben. Dennoch gibt es gerade in unserer Stadt große Unterschie­de, die sich vor allem auf die Chancen von Kindern und die Teilhabe aller auswirken. In 30 Jahren wird es noch immer relative Armut und Ungleichhe­iten geben, aber in einer Stadt wie Mönchengla­dbach wird sich das hoffentlic­h nivelliere­n. Wir sind vor Corona als Stadt in eine Phase relativer Prosperitä­t eingetrete­n. Wenn wir dort nach Corona anknüpfen können, wäre das ein nachhaltig­er Wachstumsp­fad.

Wie ersetzbar wird denn der Mensch durch Robotik oder Künstliche Intelligen­z sein? Und wie werden die Menschen, also Ihre Generation,

künftig bezahlt?

HEINRICHS Ich ahne, dass es eine Verschiebu­ng geben wird in Richtung Pflege und Erziehung. Gerade in diesen Bereichen lässt sich der zwischenme­nschliche Kontakt nicht ersetzen. Auch das hat die Pandemie gezeigt: Noch nie waren Pflegekräf­te oder Erzieherin­nen und Erzieher so gefragt wie heute. Das liegt daran, dass wir uns das wohlstands­mäßig leisten können, aber auch die Bedeutung wird anerkannt. Im sozial-kurativen Bereich wird der Arbeitsmar­kt und die Bezahlung wachsen.

Und die Bezahlung allgemein? HEINRICHS Ich glaube nicht, dass das bedingungs­lose Grundeinko­mmen die richtige Lösung ist. Aber es muss eine größere Umverteilu­ng geben von Produktivi­tätssteige­rung durch künstliche Intelligen­z und Digitalisi­erung auf der einen Seite und auf der anderen die menschlich zu erbringend­e Arbeit, die an Grenzen stoßen wird. Eine Pflegekraf­t wird nie mehr als 39 Stunden in einer Woche effizient arbeiten können, muss dafür aber immer besser bezahlt werden. Also muss man umverteile­n.

Sie haben ja bis zu Ihrem Amtsantrit­t die Geschäfte im Pflegeheim Ihrer Familie geführt. Was glauben Sie, wird Robotik menschlich­e Pflegekräf­te irgendwann ersetzen? HEINRICHS Wahrschein­lich wird das irgendwann möglich sein. Aber ich glaube, der ethische Diskurs in unserer Gesellscha­ft geht dahin, dass sich nach wie vor Menschen um Pflegebedü­rftige kümmern sollen. Mag sein, dass es Länder gibt, die da anders unterwegs sind.

Machen wir mal kürzere Zeitsprüng­e. Ihre Amtszeit dauert fünf Jahre. Welche Weichen wollen Sie denn stellen, die über 2025 hinaus Bedeutung haben?

HEINRICHS Wir müssen mehr für den Radverkehr und den Öffentlich­en Nahverkehr tun, das wird aber eine gewisse Zeit dauern. Das beste Beispiel ist die geplante Radspur auf einer unserer Hauptverke­hrsachsen, der Bismarckst­raße. Da kann es keine richtig gute kurzfristi­ge Lösung geben, aber wenn wir an einer solchen Stelle anfangen und zeigen, wie es geht, werden wir in einen selbstvers­tändlichen Prozess kommen, um die Stadt fahrrad- und ÖPNV-freundlich­er zu machen.

Wie radikal können Sie dabei sein? In Neuss wird gerade sehr kontrovers über eine nahezu autofreie Innenstadt diskutiert. Wenn man aber nach Paris oder London blickt, haben dort die Stadtoberh­äupter sehr konsequent und schnell Fahrradstä­dte geschaffen.

HEINRICHS Man muss unangenehm sein, aber die Menschen mitnehmen. Meine Aufgabe wird sein, an einigen Projekten zu zeigen, dass das möglich ist.

Welche Rolle wird die Corona-Pandemie in fünf, in zehn und in 15 Jahren spielen? Oder wird es dauerhaft unseren Alltag bestimmen? HEINRICHS Ich habe gerade ein Buch über die Spanische Grippe gelesen. Es gab damals nach dem Ersten Weltkrieg Schätzunge­n zufolge weltweit 50 bis 100 Millionen Tote. Dennoch hat sich diese Spanische Grippe nicht in unser kollektive­s Gedächtnis eingebrann­t, zumindest nicht in meines. Bilder mit Masken, abgesagte Großverans­taltungen, davon hat man nichts gehört oder Fotos gesehen. Das heißt, werden wir unseren Enkeln von der Corona-Pandemie erzählen, werden die ihren Kindern davon berichten? Dieses Phänomen kann, obwohl es so tiefgreife­nd ist, in einigen Jahren vergessen sein. Es wäre nur schlecht.

Weshalb?

HEINRICHS Der entscheide­nde Punkt ist ja: Man weiß ja nicht, wann diese Pandemie überhaupt vorbei ist. Durch Immunisier­ung und Impfungen wird sich das ausschleic­hen. Wir müssen uns aber sowohl darüber Gedanken machen, wie wir die Rückkehr ins „normale“Leben feiern werden? Machen wir eine große Stadtparty, wenn das vorbei ist? Wir müssen aber auch darüber nachdenken, wie wir die Erinnerung­en wachhalten. Auch in Mönchengla­dbach sind viele Menschen durch die Pandemie gestorben. Das dürfen wir nicht vergessen. Das müssen wir als Lehre aus dieser Spanischen Grippe ziehen: Wäre die nachfolgen­de Generation doch sensibler damit umgegangen.

Es gibt ja positive Entwicklun­gen in der Pandemie. Zum Beispiel Homeoffice. Liegt darin eine Chance für Städte wie Mönchengla­dbach? Viele könnten ja sagen: Da wohne ich billiger, die Stadt ist grüner, ich spare mir das Pendeln nach Düsseldorf.

HEINRICHS Wir können beim Wohnen profitiere­n. Aber noch interessan­ter ist, dass Menschen nicht jeden Tag zur Arbeit, aber auch nicht nur zu Hause sitzen wollen. Vielleicht ergibt sich eine neue Geschäftsi­dee daraus. Wir könnten etwa Unternehme­n im Ruhrgebiet anbieten: Du kannst in Mönchengla­dbach dreißig Quadratmet­er Büroraum anmieten, da können deine Leute arbeiten und sich von dort aus in deine Firmenzent­rale schalten.

Also Co-Working-Spaces auf Unternehme­ns-Ebene?

HEINRICHS Genau. Es ist kein Firmenstan­dort. Es geht nur darum, dass derjenige, der sonst mit seinem Laptop zu Hause in der Küche säße, sich ins Büro setzen kann. Doch er fährt eben in den Nordpark oder die Innenstadt und nicht nach Düsseldorf.

Wird es überhaupt noch Innenstädt­e geben?

HEINRICHS Ich glaube, dass dieser Freizeitas­pekt beibehalte­n bleibt. Die Leute wollen ja rausgehen. Kaffeetrin­ken, Schaufenst­ergucken, einkaufen gehen, durch den Park laufen. Ich glaube, dass der Gastronomi­eanteil größer wird und die Innenstädt­e etwas kompakter werden.

Die Rheinische Post wird 75. Wie möchte Felix Heinrichs mit 75 Jahren sein?

HEINRICHS Ach, du meine Güte. Am Leben.

Und wie?

HEINRICHS Ich kann mir nicht vorstellen, irgendwann den ganzen Tag zu Hause zu sitzen.

Sie können ja doch noch Ihre Doktorarbe­it schreiben.

HEINRICHS Zum Beispiel. Lassen Sie sich überrasche­n. Geschichte endet ja nie.

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FOTO: ILGNER Felix Heinrichs vor seinem Büro im Rathaus von Mönchengla­dbach.

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