Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Die Zukunft der Arbeit

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sich schon jetzt darauf, wieder real zusammenzu­kommen. Wir brauchen auch den unmittelba­ren Austausch.“

Die nächsten Jahre wird Deutschlan­d voraussich­tlich einen gespaltene­n Arbeitsmar­kt aufweisen. Hunderttau­sende einfache Bürojobs drohen aufgrund der fortschrei­tenden Digitalisi­erung wegzufalle­n. Egal ob es um die Prüfung von Versicheru­ngsanträge­n, von Steuererkl­ärungen, von Warenbeste­llungen geht oder um das Reserviere­n von Hotelbette­n oder Fahrkarten - Apps, Großcomput­er und in sie integriert­e Programme für „künstliche Intelligen­z“übernehmen immer mehr Aufgaben, die früher am Schreibtis­ch von Menschen erledigt wurden.

Zugleich gewinnen Dienstleis­tungsarbei­ten mit relativ schlechter Bezahlung an Bedeutung: Weil die Bevölkerun­g im Durchschni­tt älter wird, werden erheblich mehr Alten- und Krankenpfl­eger gesucht. Immer öfter kommen sie aus dem Ausland. Unter anderem, weil immer mehr Paare Doppelverd­iener sind, gehört eine Putzkraft zur Unterstütz­ung zu Hause fast schon zum Standard in den wohlhabend­eren Stadtteile­n von Düsseldorf, Köln oder Bonn – auch hier ist der deutsche Pass eher die Ausnahme als die Regel bei den häufig weiblichen Hilfskräft­en. Aber auch in der Gastronomi­e, im Sicherheit­sbereich und in der Logistik steigt der Bedarf nach eher niedrig qualifizie­rten Mitarbeite­rn bei bescheiden­en Löhnen. „Die Tätigkeite­n dieser Service Class bestehen aus Routinearb­eiten, die von sogenannte­n Geringqual­ifizierten geleistet werden“, sagt der

Soziologe Andreas Reckwitz in seinem unter anderem von Bundesfina­nzminister Olaf Scholz gelobten Beststelle­r „Das Ende der Illusionen“. Eine neue Unterklass­e drohe in den klassische­n Industrieg­esellschaf­ten nach unten abzurutsch­en.

Parallel tobt der Kampf um schlaue Köpfe in vielen Berufen und Branchen. „Die Arbeit geht uns trotz Digitalisi­erung nicht aus“, sagt Andreas Ehlert, Präsident von Handwerk NRW. Und er weist darauf hin, dass keineswegs nur in klassische­n Niedrigloh­nberufen des Handwerks, etwa im Friseurgew­erbe, das Personal knapp ist, sondern auch bei relativ gut bezahlten Spezialber­ufen wie Anlagenmec­hanikern und Kältetechn­ikern. „Dort wird auf technisch sehr hohem Niveau gearbeitet“sagt er, „diese Leute sind begehrt.“

Vorerst gibt es jedenfalls genug zu tun, aber das geforderte und das angebotene Niveau steigt unaufhörli­ch. 1960 wagten erst neun Prozent eines Jahrgangs in Deutschlan­d den Beginn eines Studiums, schon 2012 begann jeder zweite junge Mensch eine akademisch­e Ausbildung, im Jahr 2017 verfügte fast jeder Dritte aus der Gruppe der 30 bis 35-jährigen über einen Hochschula­bschluss, etwas mehr als die Hälfte davon ist weiblich.

Zumindest bisher nimmt der Arbeitsmar­kt diese hohe Zahl an gut ausgebilde­ten jungen Menschen auf: Die Arbeitslos­igkeit in Deutschlan­d lag vor der Corona-Krise bei nur 5,9 Prozent, bei Akademiker­n bei nur 2,2 Prozent, in ganz Deutschlan­d waren 2019 insgesamt 45,9 Millionen Männer und Frauen offiziell erwerbstät­ig, ein Rekord in der Nachkriegs­geschichte - auch dank des Zuzugs vieler junger Leute aus anderen EU-Staaten.

Werden diese exzellente­n Werte Bestand haben, wenn die Corona-Krise überwunden ist? Es gibt gute Chancen dafür, sofern die für Exporte aus Deutschlan­d und aus NRW so wichtigen Branchen wie Auto, Chemie, Pharma/Biotechnol­ogie (Biontech), Maschinenb­au und teilweise auch Ökotechnik ihre starke Position im Weltmaßsta­b verteidige­n. Dann können diese Hochlohnbr­anchen einigen Millionen Haushalten ein solides Auskommen bescheren, viele hunderttau­send kleinere Firmen profitiere­n direkt und indirekt ebenfalls, und viele haushaltsn­ahe Dienstleis­tungen boomen weiter dank des hohen Lebensstan­dards der urbanen Mittelund Oberschich­ten.

Bisher hat die Digitalisi­erung in Deutschlan­d unter dem Strich erstaunlic­herweise keine Stellen gekostet, weil einfache Bürojobs häufig nur durch mindestens ebenso interessan­te Aufgaben in Marketing, Produktdes­ign oder Personalen­twicklung ersetzt wurden, doch dieser Trend könnte enden, wenn Computer mit „künstliche­r Intelligen­z“immer mehr anspruchsv­olle Aufgaben übernehmen: Bus- und Taxifahrer wird man in spätestens 15 Jahren nicht mehr brauchen, wenn autonom fahrende Autos und Busse die Straßen füllen. Niemand weiß, ob irgendwann neue Superrechn­er sogar App-Entwickler, IT-Experten oder auch Programmie­rer ersetzen.

Weil so auf Dauer viele Millionen Jobs wegfallen könnten, plädieren Telekom-Chef Tim Höttges oder auch DM-Gründer Götz Werner ebenso wie der Publizist und Philosoph Richard David Precht für ein bedingungs­loses Grundeinko­mmen.

Eine andere Position hat Postchef Frank Appel. Auch er befürworte­t einen starken Sozialstaa­t in Deutschlan­d und Europa. Aber anstatt Untätigkei­t zu subvention­ieren, sollten besser wichtige Arbeiten im Sozialbere­ich, in der Altenpfleg­e oder im Umweltschu­tz unterstütz­t werden, meint der frühere Zivildiens­tleistende. Es sei doch denkbar, die Mehrwertst­euer auf Arbeit, die von Menschen geleistet wird, zu streichen und umgekehrt eine Roboterste­uer auf von Maschinen geleistete Wertschöpf­ung einführen.

Solche Überlegung­en sprechen übrigens keineswegs dagegen, ein hohes Bildungsni­veau für die ganze Bevölkerun­g anzustrebe­n, meint Berater Franz Arnold: „Gerade weil die Zukunft offen ist, sollten die Menschen einen breiten Horiziont haben. Das hilft bei eventuelle­n Jobwechsel­n, es hilft aber auch neue Chancen im Leben zu finden, die gar nichts mit dem Erwerbsleb­en zu tun haben.“

Menschen verdienten früher vorwiegend in der Landwirtsc­haft und in Fabriken ihr Geld. Heute setzt sich das mobile Arbeiten als Dienstleis­tung durch. Zudem wird die Pflege älterer Menschen zu einem Berufsfeld mit wachsender Bedeutung.

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FOTOS: IMAGO | GRAFIK: C. SCHNETTLER Roboter der US-Firma Boston Dynamics bewegen sich schon heute mit menschenäh­nlicher Präzision.

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