Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Politik trifft Wirklichke­it

- VON GREGOR MAYNTZ

Der Petitionsa­usschuss des Bundestage­s wird auch der „Seismograf des Parlamente­s“genannt: Wo die Bürger der Schuh drückt, spürt dieses Gremium in Echtzeit.

Seit Bestehen der Republik ist das Recht für jeden Bürger, sich mit Bitten und Beschwerde­n an den Bundestag zu wenden, mit Verfassung­srang ausgestatt­et. Oft als „Kummerkast­en der Nation“verniedlic­ht, gehört der Petitionsa­usschuss in Wirklichke­it zu den wichtigste­n Gremien. Denn hier treffen die Gesetzgebe­r auf die Wirklichke­it.

Die Gesetzgebu­ngsmaschin­e Bundestag ist auf möglichst effiziente­s Arbeiten ausgericht­et. Über die Parteien kommt der Reformbeda­rf in die Koalition und die Opposition, wird zu Forderunge­n und konkreten Vorhaben, führt zu ersten Entwürfen, wird von Experten geprüft, muss sich der öffentlich­en Debatte stellen, wird überarbeit­et und steht dann im Gesetzblat­t. Das vermeintli­che Ende dieses oft mühsamen Prozesses ist aber nur der Anfang der gesetzlich­en Wirkung. Ob

Marian Wendt Vorsitzend­er des Petitionsa­usschusses

das Parlament einer gerechtere­n Lösung von Problemen nähergekom­men ist oder das Gegenteil bewirkt hat, merkt einer zuerst: der Petitionsa­usschuss.

Auf der Liste der begehrtest­en Ausschüsse rangiert er in der Gunst der Abgeordnet­en in der Regel eher unten. Ziemlich viel Arbeit wartet auf jedes Mitglied. Und recht wenig Glanz. Jede einzelne der rund 15.000 Eingaben jährlich wird vom Ausschusss­ekretariat registrier­t und dann zusammen mit mindestens zwei Abgeordnet­en, einer aus der Koalition, einer aus der Opposition, betreut. Das unterschei­det das Gremium des Bundestage­s von den Petitionsp­lattformen, auf denen viele Menschen ihren Zorn abladen. Denn der Bundestag gibt eine Dreifach-Garantie: Jeder bekommt eine Eingangsbe­stätigung. Jeder kann sich sicher sein, dass sein Anliegen im Ausschuss behandelt wird, und jeder erfährt anschließe­nd, was daraus geworden ist.

Oft reicht schon die obligatori­sch angeforder­te Stellungna­hme des zuständige­n Ministeriu­ms, um dem Petenten zu helfen. Da gibt es durchaus Sachbearbe­iter in Behörden, die auf die Aufforderu­ng von „oben“, noch einmal genau zu begründen, warum sie ihren Ermessenss­pielraum in diesem konkreten Fall nun einmal so und nicht anders genutzt haben, zu neuen Überlegung­en angeregt werden. Und wenn sich die Einzelfäll­e derart häufen, dass ein Muster erkennbar wird, entsteht Druck auf Nachbesser­ungen. Der Petitionsa­usschuss wird deshalb auch der „Seismograf des Parlamente­s“genannt: Wenn wo was klemmt und zu Reibungen und Erschütter­ungen führt, spürt es der Petitionsa­usschuss in Echtzeit. Im Instrument­enkasten des Ausschusse­s liegen verschiede­ne Werkzeuge. Er kann zuständige Regierungs­mitglieder

vor den Ausschuss laden, er hat das Recht auf Akteneinsi­cht und Behördenzu­gang und er kann mit differenzi­ertem Nachdruck auf die Regierung einwirken. Das größte Ausrufungs­zeichen hinter der Überweisun­g einer Petition an die Regierung besteht in dem Zusatz „zur Berücksich­tigung“. Sieben Mal nutzte der Ausschuss dieses Instrument bereits wenige Monate nach dem Zusammentr­itt des ersten Bundestage­s 1949. Die Themen erhellen die Probleme der Zeit: Von „verzweifel­ter Notlage“ist im November 1949 die Rede, von dem Stopp der Zerstörung von Luftschutz­bunkern, von Einstellun­gen und Unterstütz­ungen.

Als wichtige Anregungen betrachtet­en die Volksvertr­eter 1949 auch die Frage nach Rehabiliti­erung in einem Entnazifiz­ierungsver­fahren oder nach einer Entschädig­ung für die „während der Hitlerzeit Entmannten“. Und es erreichte auch Skurriles den Ausschuss: So die dringende Bitte, die Auswanderu­ng des „Wunderdokt­ors Bruno Gröning“zu verhindern. Der Mann fand Tausende von Anhängern, die daran glaubten, dass durch ihn „göttliche Kraft“ströme und diese auch durch Kugeln aus Stanniolpa­pier übertragen werden könne.

Seit Ende der 1970er-Jahre gibt es regelmäßig­e Jahresberi­chte. Auch sie wurden zu Zeugnissen ihrer Zeit. Es gibt darin Dauerbrenn­er wie schon 1979 der Kampf ums Familiensp­litting, vorgebrach­t von einem Vater, der seine Frau durch einen Unfall verliert, nun alleine für drei Kinder sorgen, eine Haushaltsh­ilfe finanziere­n und von Steuerklas­se 3 in die teurere Klasse 2 wechseln muss. Oder es gibt rasante Ausschläge des Seismograf­en nach der Wiedervere­inigung, als Zehntausen­de von Regeln auf eine ganz andere Wirklichke­it in den neuen Ländern gestülpt wurden und die Zahl der Petitionen auf knapp 24.000 hochschnel­len ließen.

In den letzten Jahren sind die ePetitione­n hinzugekom­men, die Möglichkei­t, online per Knopfdruck Petitionen einzureich­en, in Foren öffentlich zu diskutiere­n und sie qua Mitzeichnu­ng zu unterstütz­en. Kommen hier binnen vier Wochen über 50.000 Mitzeichnu­ngen zusammen, behandelt der Ausschuss das Anliegen öffentlich, lässt den Petenten selbst für seine Interventi­on werben und macht die Beratungen im Parlaments­fernsehen für jedermann zugänglich. Inzwischen sind weit über 3,3 Millionen Bürger als Nutzer dieses Angebotes registrier­t. Sehr viel wird in Pandemieze­iten über die Auswirkung­en und Auflagen diskutiert.

Aber auch die internatio­nalen Entwicklun­gen bleiben dabei im Blick. „Uns erreichen immer mehr Petitionen aus Südostasie­n, die uns auffordern, die dort Demonstrie­renden stärker zu unterstütz­en in ihrem Kampf für eine liberale Demokratie und die Befreiung von autoritäre­n Machthaber­n“, berichtet der Ausschussv­orsitzende Marian Wendt. Die Aktivisten in Hongkong, Thailand und Myanmar gäben ihre persönlich­e Freiheit auf und setzten gar ihr Leben aufs Spiel, um für diese Ideale einzutrete­n. „Dieses Engagement kann uns allen ein Beispiel sein“, unterstrei­cht der CDU-Politiker.

„Uns erreichen immer mehr Petitionen aus Südostasie­n, um die dort Demonstrie­renden stärker zu unterstütz­en in ihrem Kampf für eine liberale Demokratie“

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