Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

„Demokratie muss jeden Tag erkämpft werden“

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Dann nahm er den Nachtzug nach Bonn. Weil der aber weniger als fünf Stunden brauchte, fuhr Schäuble zunächst an Bonn vorbei bis Essen. „Und auf dem Rückweg nach Bonn habe ich dann im Speisewage­n gefrühstüc­kt“, erinnert sich der CDU-Politiker. Eine eigene Wohnung in der kleinen Universitä­tsstadt am Rhein – für die erste Abgeordnet­en-Generation war das ein kleines Wunder. Günter Goetzendor­ff, Abgeordnet­er der Splitterpa­rtei Wirtschaft­liche Aufbau-Vereinigun­g (WAV), kam zur Untermiete bei einem Studienrat unter und teilte sich die Wohnung überdies mit dem SPD-Politiker Adolf Arndt. „Wenn seine Frau zu Besuch kam, konnte ich frühmorgen­s das Badezimmer nicht benutzen, weil sie darin schlief“, erinnerte sich Goetzendor­ff. Zwölf Abgeordnet­e teilten sich zwei Büroräume, hatten zusammen eine Schreibmas­chine, und wenn sie etwas schreiben lassen wollten, kamen „Damen vom Schreibdie­nst“, allerdings manchmal erst nach zwei, drei Tagen.

Auch in den 1970er-Jahren habe es in den meisten Büros und Wohnungen noch keine Fernseher gegeben. „Wir haben in der Parlamenta­rischen Gesellscha­ft zusammen ferngesehe­n“, berichtet Schäuble. Vor allem die großen Fußballspi­ele verfolgten die Parlamenta­rier dort.

Die oft gefühlte „gute alte Zeit“– war sie so viel besser als heute? Konnte man dort als Abgeordnet­er noch vernünftig mit den Menschen kommunizie­ren und lief nicht Gefahr, wie heute, von Shitstorms, Hass

„Der Satz: ,Früher war alles besser’, ist immer falsch“

Wolfgang Schäuble Alterspräs­ident des Bundestage­s und Morddrohun­gen verfolgt zu werden? „Der Satz ,Früher war alles besser’ ist immer falsch“, lautet eine zentrale Erkenntnis von Schäuble. „Wir steckten in der Auseinande­rsetzung mit dem Kommunismu­s, hatten die scharfe Ost-West-Konfrontat­ion“, erinnert Schäuble. Der Kalte Krieg hätte jederzeit heiß werden können. Das Klima sei von Spionage geprägt gewesen – da war es nicht weit bis zu Verratskam­pagnen.

Zu den Beispielen gehört für ihn der Wahlkampf gegen „Brandt alias Frahm“, als der Geburtsnam­e den späteren Bundeskanz­ler verunglimp­fen sollte. „Wir sollten das nicht verharmlos­en“, lautet Schäubles Zusammenfa­ssung. Und: „Wir können nicht sagen, dass da kein Hass dabei gewesen sei.“Es habe zwar keine Sozialen Netzwerke gegeben, aber Beschimpfu­ngen und Störungen von Veranstalt­ungen. „Und wir hatten die terroristi­sche Bedrohung durch Baader-Meinhof – das war auch alles nicht so fröhlich“, meint Schäuble.

Nach dem Viel-Parteien-Parlament ab 1949 sorgte die Fünf-Prozent-Hürde über Jahrzehnte für eine Konzentrat­ion auf CDU, CSU, SPD und FDP. Das änderte sich 1983 durch den Einzug der Grünen. Und noch einmal 1990 mit der Wiedervere­inigung und dem Einzug der PDS. Deren bekanntest­er Politiker Gregor Gysi erinnert sich: „Die Situation war für die Abgeordnet­en aus dem Osten sehr fremd.“Die Mehrheit habe sie im Plenum und draußen abgelehnt. Eine kleine Gruppe sei sachlich mit ihnen im Haus und außerhalb umgegangen. Schließlic­h habe es diejenigen gegeben, „die uns im Plenum angifteten und draußen so taten, als ob sie es nicht so gemeint hätten – die konnte ich am wenigsten leiden“, erklärt Gysi.

Es habe lange gedauert, bis eine immer sachlicher­e Atmosphäre entstanden sei. Und eine weitere atmosphäri­sche Veränderun­g im Bundestag habe es 2017 mit dem Einzug der AfD gegeben. Sogar zwischen Union und Linken beginne man nun, sich besser zu verstehen: „Dort wird auch langsam begriffen: die Gefahr kommt von rechts“, hält Gysi fest. Er startete seinerzeit noch in Bonn. Dorthin seien die Probleme der Welt nicht wirklich durchgedru­ngen.

Die veränderte Kommunikat­ion macht Schäuble Sorgen. Die Grundaufga­be der Abgeordnet­en sei zwar gleich geblieben: die Prinzipien der freiheitli­chen Demokratie – Respekt vor der Würde jedes Menschen, Freiheit, Rechtsstaa­tlichkeit – stabil zu halten. Aber wie gelingt das unter den Bedingunge­n der totalen Veränderun­g? Parlamenta­rische Demokratie brauche aber eine gemeinsame Öffentlich­keit. Nun machten alle westlichen Demokratie­n Akzeptanzk­risen durch, und mit den in der Pandemie effiziente­r erscheinen­den Diktaturen verschärfe sich die Frage, ob sich das westliche Modell behaupten oder Populisten und Extremiste­n die Oberhand gewännen. Schäuble: „Die Demokratie muss jeden Tag erkämpft werden, und das wird immer schwierige­r.“

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FOTO: DPA Seit über 20 Jahren tagt der Deutsche Bundestag im Reichstags­gebäude in Berlin.

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