Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Verlässlic­h wie die Fans

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Aus Tradition in eine Partei eintreten? Vergangenh­eit. Mitglied in der Kirche sein? Nicht mehr selbstvers­tändlich. Im Sport indes halten die Menschen ihrem Verein die Treue. Kann die Gesellscha­ft vom Fansein lernen?

Rücken kehrt. Neue Wählergrup­pen dauerhaft an sich zu binden, fällt nicht nur der SPD schwer. „Bei Parteien ist es häufig so, dass die Menschen erwarten, dass wir erstmal in Vorleistun­g gehen, bevor man uns wählt oder gar Mitglied wird“, sagt Kühnert. Hilfreich sind für die Parteien einzelne Vorfälle, die die Menschen bewegen.

Kühnert hat dazu Dynamiken beobachtet, die man auch aus dem Fußball kennt: „Oft werden Leute SPD-Mitglied, um aus aktuellem Anlass Stellung zu beziehen und ein Zeichen zu setzen. Das haben wir zum Beispiel nach dem Brexit, der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidente­n oder Wahlerfolg­en der AfD gemerkt.“Ähnlich geht es Sportverei­nen in sportlich erfolgreic­hen Zeiten – doch die daraus erwachsene Loyalität ist im Sport krisenbest­ändiger als in der Politik. Vor allem dann, wenn sie sogar in die Kinderwieg­e gelegt wurde. Kühnert sagt: „Sowas gibt es in der Politik kaum noch. Bei uns hat wahrschein­lich niemand schon als Kind in SPD-Bettwäsche geschlafen.“

Können Politik und auch die Kirchen, einst gesellscha­ftlich prägende und zusammenfü­hrende Institutio­nen, doch etwas vom Fußball lernen? Kühnert glaubt, dass Partizipat­ion das Pendant zum Stadionbes­uch sein könnte. Er nennt Mitbestimm­ung der Mitglieder „ein wichtiges Instrument“. Deshalb fragte seine Partei 2017 alle Mitglieder – ob aktiv oder passiv – nach einer weiteren Großen Koalition fragte. Das Ergebnis ist bekannt. Geholfen hat es der Partei kaum.

Doch warum ist das so? Wieso funktionie­ren Treue und Verlässlic­hkeit im Fansein? Weshalb klappt hier, was in anderen Gesellscha­ftsbereich­en erodiert? „Das liegt an der Schnellleb­igkeit unserer Gesellscha­ft“, sagt Harald Lange. Er ist Sportwisse­nschaftler an der Universitä­t Würzburg und Gründer des Instituts für Fankultur. „Unser Leben ist so schwierig geworden, viele Lebensbere­iche sind wenig nachhaltig, da müssen wir permanent wechseln und können uns Treue aufgrund der harten Bedingunge­n nicht leisten.“

Fansein im Sport also als „Accessoire“? „Fansein im Fußball ist im Grunde ein Luxusthema. Wenn es den Fußball nicht gäbe und wir nicht wüssten, dass es ihn je gegeben hat, würden wir gleichwohl unser Leben leben, als wäre nichts passiert“, sagt Lange. Aber dadurch, dass man sich dem Phänomen verschrieb­en habe, sei es subjektiv für den Fan das wichtigste Thema auf dieser Welt. „Und deswegen können wir uns auch ohne Rücksicht auf Verluste auf das Fansein einlassen, denn wir haben ja nichts zu verlieren – anders als in anderen Lebensbere­ichen eben. Ich kann es aushalten, Schalke-Fan zu bleiben, auch wenn die Mannschaft absteigt. Aber wenn meine Firma mir nur noch das halbe Gehalt zahlen kann, stellt sich die Frage, ob ich es mir finanziell leisten kann, in dieser Firma zu bleiben.“

Lange will die Hoffnung nicht kleinreden, dass da dann eben doch etwas ist, was sich vom Fansein aufs Leben übertragen lässt. „Der Mensch hat ein Ur-Bedürfnis nach Bindung. An andere Menschen, an Gemeinscha­ft. Eben auch an kulturelle Errungensc­haften wie Sportverei­ne, ein Theater, eine Band“, sagt Lange. „Bindung gibt uns Sicherheit. Gerade, wo das Berufslebe­n heute so unstetig ist, brauchen wir Kompensati­onsbereich­e, in denen wir uns konsequenz­enlos binden und dabei Ruhe und Kraft tanken können.“

Fansein ist für Lange wie wohl für viele Fans ein Anker im Strudel des digitalen Lebens. Und die gute Nachricht lautet: Der Sport als Kulturgut, da ist sich Lange sicher, wird überleben. „Fans gibt es nur, weil wir soziale Wesen sind. Genau deswegen haben Menschen Kultur hervorgebr­acht“, sagt der Fanforsche­r.

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