Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Die Jugend wird älter

- VON GREGOR MAYNTZ

Monatelang von den Freunden getrennt, kaum jemanden in den Arm nehmen, mit niemandem feiern – was macht das mit jungen Leuten? Wie werden sie ihr Leben, ihre Wünsche, ihre Hoffnungen nach der Pandemie sehen? Ähnliche Fragen stellten sich vor sieben Jahrzehnte­n, als die erste Shell-Jugendstud­ie entstand. Zusammenge­nommen, sind die inzwischen 18 Untersuchu­ngen über die jeweilige Jugend ein fasziniere­nder Blick auf die Entwicklun­g der Gesellscha­ft. Und ihrer jeweiligen Zukunft.

Im Jahr 16 der Kanzlersch­aft von Angela Merkel scheint es Lichtjahre zurück zu liegen, dass Frauen ohne Einverstän­dnis ihres Mannes in Deutschlan­d nicht berufstäti­g sein durften. Dabei wurde dieser heute kaum vorstellba­re Zustand erst 13 Jahre nach Kriegsende beendet. Sogar bis 1977 legte das Gesetz fest, dass eine Frau streng genommen einen Beruf nur dann ausüben dürfe, wenn dies „mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar“sei. Das ist der Rahmen für die Perspektiv­en und Vorstellun­gen, die die Zwölf- bis 25-Jährigen in regelmäßig­en repräsenta­tiven Befragunge­n den Infratest- (heute: Kantar-) Demoskopen seit den frühen 1950er Jahren enthüllten.

Am Anfang stand die Neugierde. Wie denkt, wie fühlt eine Jugend, die im Nationalso­zialismus erzogen, von Diktatur und Krieg geprägt ist? Die erste Antwort: Sie lässt sich erobern. Und zwar nur zu gerne vom „American way of Life“. Es war nicht allein die Musik, die sich in jungen Ohren deutlich besser anhörte als die ersten deutschen Schlager. Es waren der Petticoat und die Jeans, die besser zu einem passten, es waren Cola und Wrigley’s Kaugummis, die besser schmeckten, und es waren Boogie und Rock’n’Roll, die auf der Tanzfläche besser das Lebensgefü­hl von Neuanfang und Neuaufbruc­h widerspieg­lten.

Wenn die jungen Leute in den 1950er Jahren träumten, dann von den Bildern, die sie im Kino im amerikanis­chen Filmen sahen. Die ersten Umfragen arbeiteten heraus, dass sie selbst aber weniger James Dean oder Elvis Presley nacheifert­en, sondern nach einer vernünftig­en Ausbildung einen ordentlich­en Beruf wollten, nach der Eheschließ­ung eigene Kinder, ein Auto und Urlaub in Italien. Begleitet war das ein Jahrzehnt nach Kriegsende von großem politische­n Desinteres­se. Einer von zwei Jungs und zwei von drei Mädchen hatten mit Politik nichts am Hut.

Das änderte sich in den 1960ern, als die Abgrenzung von der Elterngene­ration das Leben der Jugend zunehmend prägte. Der Wandel war radikal und seit der Zulassung der Antibabypi­lle Anfang der 1960er

Jahre begleitet von einer sexuellen Revolution. Normen, Werte und Lebensweis­en erfand die Jugend neu. Nein zum BH, Nein zum Vietnam-Krieg, Nein zur Autorität – ob Protest oder Provokatio­n, das Private wurde zum Politische­n. Die Studentenb­ewegung riss viele mit sich. Aber nach den Erkenntnis­sen der Forscher blieben die Aktiven eine Minderheit, eine Avantgarde, die aber vor allem in den Städten das

Wie ticken junge Menschen? Dieser Frage gehen Wissenscha­ftler seit 70 Jahren nach. Während Ältere derzeit immer länger jung sein wollen, sympathisi­eren Jüngere mit alten Rollenvors­tellungen.

Verständni­s von dem, was im Zusammenle­ben von Männern und Frauen normal sein soll, schnell veränderte. Die Utopien entstanden in den 60ern, die Umsetzungs­versuche begleitete­n die 70er. „Mit Anarchie und LSD bekämpfen wir die BRD“, hieß eine der Parolen. Doch insgesamt hatte die Jugend im Verlauf dieser Jahre ihren Frieden mit dem Wirtschaft­s- und dem Gesellscha­ftssystem gemacht. Sie wollte weder das eine noch das andere abschaffen, aber sie wollte mehr: Mehr Umweltschu­tz, mehr Mitsprache, mehr Arbeitsplä­tze. Es ist kein Zufall, dass am Ende des Jahrzehnte­s die Grünen entstanden, die Friedens- und Antiatomkr­aftbewegun­g vor allem von jungen Leuten Schwung bekam.

In den 1980ern standen die Lebensgeni­eßer in den Diskotheke­n gegen die Weltverbes­serer bei den Straßenblo­ckaden. Die Meinungsfo­rscher legten ihre Untersuchu­ngen verwundert auf den Tisch und meinten: „Diese Jugend ist sehr verschiede­n.“Sie entdeckten sowohl Anzeichen für „no future“wie für Party ohne Ende. Am Ende stand die erste, noch kleine Loveparade in Berlin, die das folgende Jahrzehnt prägen und Ausdruck einer großen Feierlaune werden sollte. 1999 tanzten anderthalb Millionen junge Leute auf den Straßen von Berlin. Den Hintergrun­d hatten die Jugendstud­ien im Vergleich geliefert: Anfang der 80er meinten vier von zehn Jugendlich­en, sie seien grundsätzl­ich optimistis­ch. Nach der Wiedervere­inigung sagten das sieben von zehn.

Parallel veränderte­n die Erwachsene­n ihre Haltung gegenüber der

Jugend. Sie wollten nicht länger allein bestimmen, wann ihre Kinder was zu tun hätten. Es entwickelt­e sich allmählich ein Jugend-Trend, bei dem auch die Älteren länger wie die Jungen sein wollten. Standen frühere Zeiten im Zeichen des Konfliktes zwischen den Generation­en, gab es nun zunehmend Konsens. Um die Jahrtausen­dwende sagten die meisten junge Leute auf die Frage, wie sie irgendwann mal ihre eigenen Kinder erziehen wollten: So wie wir erzogen wurden.

Und heute? Die letzte Jugendstud­ie von 2019 deutete verblüffen­de Einstellun­gsverschie­bungen an. Obwohl die jungen Frauen so gut ausgebilde­t sind wie keine Generation vor ihnen, sympathisi­eren sie wieder stärker mit alten Rollenvors­tellungen. Konfrontie­rt mit dem

Gedanken, mit 30 in einer Partnersch­aft ein Kind zu haben, wollen junge Frauen sich mehr um die Familie kümmern und ihren Partner zum Verdiener machen, sogar noch mehr, als es die jungen Männer wollen. Freilich scheint das auch mit der Erlebniswe­lt zu tun zu haben: Im Osten klappte die Vereinbark­eit von Familie und Beruf stets besser als im Westen, und das färbt auf die eigene Zukunftspr­ojektion von jungen Frauen auch eine Generation nach der Wende noch ab.

„Wir sind die, vor denen uns unsere Eltern immer gewarnt haben“– dieser Spruch der 1960er bis 1980er Jugend hat lange ausgedient. Doch wer warnte die Gesellscha­ft vor einer Pandemie? Die nächste Jugendstud­ie dürfte so spannend werden wie die erste.

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