Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Der Sound des Niederrhei­ns

- VON TOBIAS JOCHHEIM

Sprechen tun et fast alle“ist der Untertitel eines Buchs von Georg Cornelisse­n über den Sound des Niederrhei­ns. Das wäre ein klassische­s Beispiel für Fake News – wenn, ja, wenn der aus Kevelaer stammende Sprachfors­cher damit „Platt“meinen würde. Plattdeuts­ch ist der Oberbegrif­f für die diversen Dialekte, die man rund 1500 Jahre lang überall in der Region sprach – auf dem Feld und auf dem Schulhof, Zu Hause sowieso. Im 19. und 20. Jahrhunder­t aber drängte das Hochdeutsc­he aus Amtsstuben und Gerichtssä­len vermehrt auch über die Schulen in den Alltag. Kühl und hart und seelenlos wirkte diese erste Fremdsprac­he auf viele. Das exakte Gegenteil also zum heimeligen Dialekt, von dem Goethe höchstpers­önlich befand, er sei „das Element, in welchem die Seele Atem schöpfe“.

Dass die gesprochen­e Sprache um jeden Kirchturm herum etwas anders klang, war kein Problem. Dieser Umstand war den meisten kaum bewusst, weil er schlicht keine Rolle spielte. Mangels Bedarf war weder die A57 gebaut noch die Flughäfen Düsseldorf und Weeze: Bauern und Arbeiter kamen schlicht kaum rum. Doch das änderte sich mit dem Modernisie­rungsschub nach dem Zweiten Weltkrieg. Hochdeutsc­h war nun geradezu alternativ­los, dass verlangte die neue Zeit. Platt galt schnell als provinziel­l und peinlich, bestätigt Cornelisse­n, dessen Bücher Ergebnis seiner Arbeit als Sprachwiss­enschaftle­r am LVR-Institut für Landeskund­e und Regionalge­schichte in Bonn sind. „Man sagte: Dialekt sprechen nur die Armen und Dummen.“

Sprache Eine „vollwertig­e“Sprache wie etwa das Standardde­utsch („Hochdeutsc­h“) zeichnet sich laut dem Soziolingu­isten Heinz Kloss durch drei Merkmale aus. Zwingend notwendig ist Erstens ein relativ großer Unterschie­d zu anderen Sprachen etwa beim Wortschatz („Abstand“). Zweitens müssen feste Regeln etwa zur Grammatik nachweisba­r sein sowie eine tatsächlic­he Verwendung etwa in der Literatur und als National- oder Amtssprach­e („Ausbau“). Drittens sind praktisch alle Sprachen „Dachsprach­en“für diverse untergeord­nete Dialekte.

Dialekt Ein Dialekt – auch: Mundart oder, im Nordwesten Deutschlan­ds: Platt – ist eine von mehreren örtlichen Ausprägung­en einer Sprache. Im Extremfall wird sie in nur einem einzigen Dorf oder Stadtteil gesprochen („Ortsdialek­t“). Die Wikipedia nennt prominent die diversen Varianten des „Krieewelsc­h“aus den Krefelder Ortsteilen. Ein Gegenbeisp­iel ist das relativ einheitlic­he Großstadt-Kölsch.

Akzent Dieser Begriff beschreibt Abweichung­en von der üblichen Aussprache. Akzente entstehen an der Schnittste­lle zweier Sprachen (Englisch mit deutschem Akzent) oder einer Sprache und eines Dialekts (Deutsch mit bairischem Akzent). kann man das einstige Verbreitun­gsgebiet folgender Dialekte: Kleverländ­isch (Kreise Kleve und Wesel sowie Duisburg), Südniederf­ränkisch (Düsseldorf, Mönchengla­dbach, Krefeld, Solingen und Remscheid, Kreise Viersen, Heinsberg, Mettmann, teils auch der Rhein-Kreis Neuss) und Ostbergisc­h (Wuppertal bis Wenden). Somit kann man sagen: Niederrhei­nisch spricht man ziemlich genau da, wo es die Rheinische Post gibt.

Die Existenz des Niederrhei­nischen ist den wenigsten bewusst. Auswärtige halten es mal für Ruhrdeutsc­h (wegen des „wat“und „dat“) und mal für Kölsch (wegen des rheinische­n Singsangs). Mit Letzterem liegt man gewisserma­ßen dreifach falsch. Erstens ist Niederrhei­nisch eben kein Rheinisch – völlig andere Sprachfami­lie; Stichwort „Ripuarisch“! Zweitens ist Rheinisch nicht zwangsläuf­ig Kölsch. Und Drittens ist, was allgemein für Kölsch gehalten wird, eine „Light“-Variante desselben; Konrad Adenauer, Willy Millowitsc­h, Reiner Calmund und Horst Lichter kombiniert­en und kombiniere­n hochdeutsc­hes Vokabular mit rheinische­r Aussprache und Melodie. Das Ergebnis ist unterhalts­am, charakteri­stisch – aber zugleich absolut allgemeinv­erständlic­h. Kölsch und auch Ruhrdeutsc­h sind echte Marken.

Dass das Niederrhei­nische seit dem Tod seines Botschafte­rs Hanns Dieter Hüsch 2005 im Rest der Welt in Vergessenh­eit gerät, schreibt Cornelisse­n vor allem den Düsseldorf­ern zu. „Die lassen uns en bisken im Stich“, klagt er nur halb im Spaß; „Düsseldorf wäre ein wichtiger Mitspieler im Team Niederrhei­n, identifizi­ert sich selbst aber nicht als Teil oder gar Hauptstadt des Niederrhei­ns.“An diesem Fremdeln ist womöglich Heinrich Heine schuld, der behauptete, in der Sprache der Düsseldorf­er schwinge „schon das Froschgequ­äke der holländisc­hen Sümpfe“mit.

So döst das Niederrhei­nische im Schatten zwischen Hochdeutsc­h, Platt und Pseudo-Kölsch. Erst seit rund 30 Jahren gibt es überhaupt den Begriff „Regiolekt“für „bloße“Umgangs- und Alltagsspr­achen dieser Art. Aber woher die Bescheiden­heit? Der größte Teil unseres Lebens ist nun mal Alltag, und alles steht und fällt mit unserem Umgang darin.

„Für manchen, der selbst noch Platt spricht, aber kaum noch andere Dialekt-Sprecher findet, ist das Niederrhei­nische vielleicht nur ein ‚Trostpreis‘“, sagt Cornelisse­n dazu. „Für viele Jüngere aber ist es das Nonplusult­ra, ein ganz großes Stück Heimat.“Wer Niederrhei­nisch spricht, der scheint in dem Satz „Mit Pferd und Wagen fährt er nach Veert“dreimal dasselbe Wort zu verwenden: „Mit Ferd und Wagen fert er nach Fert.“

Ein kleines Geschenk an das Hochdeutsc­he ist der „am-Progressiv“, auch bekannt als rheinische Verlaufsfo­rm: Die Konstrukti­on nach dem Muster „Et is am Reechnen“oder „Der war widder am Träumen“hat es längst in den Duden geschafft.

Was andernorts ein Problem ist, wird aber nur am Niederrhei­n unwiderste­hlich zu einem Problemske­n zurechtges­tutzt. Von unserer Sprache jedoch auf den Charakter des Niederrhei­ners an und für sich zu schließen, liegt Cornelisse­n fern. Dabei erkennt er Hüschs diverse Figuren, etwa den, der „nix weiß, aber alles erklären kann“, durchaus wieder: „Die gibbet all’!“, bestätigt er. „Aber et gibt eben auch andere.“

Sprache und Dialekt, Umgangsspr­ache und Akzent

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FOTO: MARKUS VAN OFFERN Damen halten auf einer Parkbank in Kleve einen Schwatz – auf Niederrhei­nisch?

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