Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

„Das Regelwerk ist durchlöche­rt“

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Der Vorsitzend­e des Städtetags NRW spricht über die Kontrollie­rbarkeit von Ausgangsbe­schränkung­en und neue Anreize zum Testen.

Herr Clausen, nun kommt die bundesweit­e Corona-Notbremse. Halten Sie das für den richtigen Schritt? CLAUSEN Unterm Strich ja. Das bundesweit unterschie­dliche Corona-Regelwerk bei hohen Inzidenzen hat sich mit seiner Unübersich­tlichkeit zu einem kommunikat­iven Desaster entwickelt. Die Menschen haben da nahezu zwangsläuf­ig völlig den Überblick verloren. Das war eine gefährlich­e Entwicklun­g, weil so das Vertrauen in die Maßnahmen in Gänze erschütter­t wurde. Der nun beschritte­ne Weg stellt aus meiner Sicht einen Befreiungs­schlag dar. Wenn man die Strategie für die Notbremse jetzt bundeseinh­eitlich aufstellt, lassen sich die Regeln klarer kommunizie­ren.

Vorausgega­ngen war viel Kritik an den Ministerpr­äsidentenk­onferenzen. Aber der Prozess eines Bundesgese­tzes ist ungleich komplizier­ter. CLAUSEN Die Entwicklun­g eines Gesetzes dauert natürlich länger. Aber eine Ministerpr­äsidentenk­onferenz schafft nie unmittelba­r Recht. Da haben 16 Länderchef­s am Ende einer langen Nachtsitzu­ng ihre Hausaufgab­en mit auf den Weg bekommen. Und sie waren ja noch nicht mal daheim angekommen, da hatte jeder schon seine Hausaufgab­e völlig anders interpreti­ert. Dann musste das Ganze noch in Landesvero­rdnungen gegossen und von den Kommunen exekutiert werden. All diese Schritte fallen jetzt weg, weil wir ganz klare Regeln bekommen. Wenn die Inzidenz einen bestimmten Wert überschrei­tet, dann herrschen beispielsw­eise Ausgangsbe­schränkung­en ab 22 Uhr.

Wie beurteilen Sie deren Kontrollie­rbarkeit durch die Kommunen? CLAUSEN Gestartet war man ja mit einer glasklaren Ausgangsbe­schränkung. Im Laufe des Prozesses sind aber so viele Ausnahmen hinzugekom­men – für Schichtarb­eiter, Hundehalte­r, Jogger, Spaziergän­ger –, dass man sie de facto gar nicht kontrollie­ren kann. Trifft unser Ordnungsdi­enst draußen jemanden, der sich mit seinem Kumpel zum Bier verabredet hat, dann wird der einfach sagen, er sei auf einem Spaziergan­g. Herausgeko­mmen ist also ein durchlöche­rtes Regelwerk.

Hätte man auf die Ausgangsbe­schränkung verzichten sollen?

CLAUSEN Nein. Sie hat schon eine Signalwirk­ung. Sie gibt den Bürgern eine Orientieru­ng, was von ihnen erwartet wird, und ist damit schon hilfreich.

Wie beurteilen Sie die weiteren Bausteine des Gesetzes?

CLAUSEN Wir haben jetzt klare Regelungen im Bereich Schule, die strenger ausfallen als das, was wir bislang in NRW hatten. Bei einer Inzidenz von 165 ist Schluss mit dem Präsenzunt­erricht. Lange war es für uns Kommunen als Schulträge­r extrem mühsam, bei den Schulen überhaupt eine Veränderun­g durchzuset­zen. Da herrschte im Schulminis­terium eine Wagenburgm­entalität. Der Normalmodu­s wurde verteidigt, statt auf Krisenmodu­s umzustelle­n. Das war für uns schwierig, die wir pragmatisc­h vor Ort die Pandemie bekämpfen wollten. Das ist aber aufgebroch­en worden, als der Ministerpr­äsident die Federführu­ng dem Gesundheit­sministeri­um übertragen hat. Das System Schule ist nur schwer zu steuern, deswegen helfen uns aber nun die klaren Regeln des Gesetzes bei hohen Inzidenzen. Wir begrüßen außerdem, dass bundesweit klar entschiede­n wird, Kitas ab einer Inzidenz von 165 zu schließen. Nun ist das Land gefordert, unverzügli­ch zu regeln, welche Eltern ihre Kinder in die Notbetreuu­ng bringen dürfen. Uns ist vor allem der Gleichklan­g bei Schule und Kita wichtig. Eltern verstehen nicht, warum Schulen geschlosse­n und Kitas geöffnet sind.

Ein weiterer Baustein ist der Umgang mit dem Handel. NRW hatte die Notbremse mit Test-Option und Shoppen mit Termin weitgehend aufgeweich­t. Wie wird in den Städten „Click and Meet“angenommen? CLAUSEN Das Handelsang­ebot in Verbindung mit einem Test wird spärlich nachgefrag­t. Das liegt deutlich unter unseren Erwartunge­n und denen des Handels. Wir haben in Bielefeld Testkapazi­täten von bis zu 60.000 Tests pro Woche aufgebaut. Das wird nur zu einem geringen Anteil genutzt. Das hängt natürlich damit zusammen, dass viele Menschen jetzt aus Sorge vor einer Infektion in der dritten Welle ihre Einkäufe verschiebe­n. Sie warten und hoffen auf Licht am Ende des Tunnels durch das gesteigert­e Impftempo.

Viele Testzentre­n könnten bald wieder schließen, wenn nicht ausreichen­d Testwillig­e kommen.

CLAUSEN Diese Sorge teile ich. Es ist ja richtig, mit Tests so weit wie möglich in das Dunkelfeld hineinzule­uchten. Aber da muss man sich dann auch überlegen, wie man den Menschen ein attraktive­s Angebot macht. Wir diskutiere­n bei uns in der Verwaltung, ob wir den Zutritt zu den Behörden an einen tagesaktue­llen Test knüpfen. Das hätte auch den Charme, dass wir an Teile der Bevölkerun­g herankomme­n, die Sie mit Testangebo­ten über das Shoppen ohnehin nicht erreichen. Natürlich müssen wir alle rechtliche­n Hürden zuvor klären. Wir werden die Teststelle­n auch in Zukunft brauchen, wenn vielleicht auch in anderer Konzeption.

Welche Erwartunge­n haben Sie an die Landesregi­erung, Ihnen die coronabedi­ngt weggebroch­enen Einnahmen auszugleic­hen?

CLAUSEN Bezogen auf 2020 waren Rettungssc­hirm und Ausgleichs­zahlung von Bund und Land auskömmlic­h für die Kommunen. Dass uns derart schnell und umfassend geholfen wurde, war keine Selbstvers­tändlichke­it. Die Pandemie war aber nicht mit dem 31. Dezember beendet. Wir haben erhebliche Einnahmeau­sfälle bei gleichzeit­igen Mehraufwen­dungen. Wenn man die Kommunen als den wichtigste­n Investitio­nsfaktor erhalten will, dann müssen sie ausreichen­d finanziert sein. Ansonsten programmie­rt man eine Investitio­nskrise. Da würde ich mir sehr zügig Zusagen von Bund und Land wünschen, dass wir diesen Ausgleich auch für 2021 bekommen. Auf dieses Signal warten wir dringend. Wir sind schon dabei, die Haushalte für 2022 aufzustell­en und die Planung bis 2025 vorzunehme­n. Da benötigen wir jetzt rasch Klarheit, mit was wir planen können. Wir können ja nicht nach Gusto und Neigung unsere Haushalte aufstellen.

Wird es schwierige­r, mit solchen Anliegen bei einem Ministerpr­äsidenten Gehör zu finden, der zugleich Kanzlerkan­didat der Union ist? CLAUSEN (lacht) Bis zur Bundestags­wahl ist er immer erreichbar und ansprechba­r.

 ?? FOTO: THOMAS F. STARKE ?? Pit Clausen (SPD) ist Oberbürger­meister von Bielefeld. Hier ist er im Dezember vergangene­n Jahres in seinem Dienstzimm­er zu sehen.
FOTO: THOMAS F. STARKE Pit Clausen (SPD) ist Oberbürger­meister von Bielefeld. Hier ist er im Dezember vergangene­n Jahres in seinem Dienstzimm­er zu sehen.

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