Rheinische Post - Geldern an Kevelaer
Der kampf ums nilwasser
Der längste Fluss der Welt ist die Lebensader der Länder, durch die er fließt. Doch das kostbare Gut Wasser wird in Zeiten des Klimawandels immer knapper. Ägypten, Äthiopien und der Sudan streiten um die Aufteilung.
Habiba entscheidet sich, die letzten Stunden des Tages auf einer Bank am Ufer des Nils in Garden City zu verbringen. Es ist eines der schönsten Stadtviertel der 18-Millionen-Metropole Kairo, der Hauptstadt Ägyptens. Der Bezirk macht seinem Namen Ehre, die meisten Bäume, Sträucher und Blumen in der ganzen Stadt blühen hier. Gemächlich fließt der Nil an der Corniche entlang, wie er es seit Hunderten von Jahren tut. Ein Großteil ihrer Kindheit verbrachte Habiba auf der Nilinsel Manial im Haus ihrer Großeltern, die sie jetzt von ihrer Bank aus sehen kann. „Ich saß immer still da und beobachtete den Fluss, manchmal einen ganzen Nachmittag lang“, erzählt sie. Das langsame Vorbeiziehen des Wassers im Gegensatz zu den oft turbulenten Wellen des Meeres mache die Atmosphäre am Nil so einzigartig.
Der Nil war stets nicht nur ein Gewässer für die Ägypter, er ist ihre Lebensader. Doch Habibas Blick auf die beruhigende, ausgleichende Natur des Nils steht im krassen Kontrast zu den heftigen Auseinandersetzungen, die derzeit um den längsten Fluss der Welt geführt werden. Ägypten hat es bislang nicht vermocht, sich mit den anderen Flussanrainerstaaten zu einigen. Der Kampf um das Wasser des Nils wird erbittert ausgetragen und nimmt an Schärfe zu.
Als die Amerikaner und Briten 2003 in den Irak einmarschierten, prophezeiten Beobachter, dies sei der letzte Krieg, der ums Öl geführt werde. Das nächste Konfliktszenario werde Wasser sein. Öl spielt zwar noch immer eine wichtige Rolle – aktuell etwa in den Stellvertreterkriegen zwischen den beiden Ölfördergiganten Saudi Arabien und Iran, die derzeit im Irak, in Syrien und dem Jemen geführt werden. Oder in der Konfrontation zwischen dem Westen und Russland, in der sowohl Öl als auch Gas eine Rolle spielen. Doch das vorhergesagte Szenario der Zukunft spielt sich jetzt definitiv am Nil ab.
Ägypten als Land am unteren Ende des Flusses kämpft um die Wassermenge, die die Nachbarn ihm nicht mehr zugestehen wollen. Über 80 Prozent des Wassers, das das inzwischen 100 Millionen Einwohner zählende Land tagein tagaus verbraucht, stammen aus dem Nil. Andere Wasserquellen gibt es kaum. Entsalzungsanlagen, wie Nachbar Israel sie zuhauf baut, sind im Nilland eine Seltenheit. Bislang bekam Ägypten 55,5 Milliarden Kubikmeter Nilwasser jährlich zugeteilt, wie ein alter Vertrag aus den britischen Mandatstagen festlegte, der seitdem weder überarbeitet noch angepasst wurde. Alle Parteien sind einig, dass dieser über 100 Jahre alte Vertrag geändert werden muss, nur die Forderungen gehen in ganz unterschiedliche Richtungen.
Ägypten steht auf dem Standpunkt, dass es mehr Wasser erhalten müsse, weil seine Bevölkerung sich seitdem nahezu verdreifacht habe. Äthiopien und die anderen Nilanrainer fordern mehr Rechte auf das Nilwasser, das bei ihnen vorbeifließt. Im Zuge der wirtschaftlichen Entwicklung Afrikas brauche man mehr Energie, heißt es nilaufwärts. Wasserkraft sei eine aus ökologischer Sicht saubere Energiequelle. Äthiopien hat den alten Vertrag mit Ägypten aufgekündigt und den Großen Renaissance-Damm gebaut, ein gigantisches Projekt zur Wassergewinnung mit 75 Milliarden Kubikmeter Fassungsvermögen. Im Juli 2020 hat das Land den Damm bereits mit 15 Milliarden Kubikmeter gefüllt. Diesen Sommer sollen nochmals 15 Milliarden dazukommen. Die ägyptische Regierung sagt: „Sie drehen uns den Hahn ab.“Ägyptens Präsident Abdel Fattah al-Sisi warnt Äthiopien vor ernsthaften Konsequenzen, sollte die Wasserversorgung seines Landes durch den Damm leiden.
Für Habiba ist es unvorstellbar, dass der Nil einen erheblichen Wasserverlust erleiden könnte. „Wie würde Kairo dann aussehen? Ein Albtraum!“Für Ahmed al-Shennawi, Professor für Ingenieurwesen mit Schwerpunkt Dammkonstruktion an der Kairoer Universität, betrifft der Albtraum nicht nur Kairo, sondern vor allem das Nildelta, eigentlich das ganze Land – von Aswan im Süden bis Damietta im Norden, wo der Nil ins Mittelmeer fließt. Während seiner gesamten beruflichen Laufbahn hat al-Shennawi an Bewässerungsprojekten der Nilländer mitgearbeitet und versucht, das Wasser des Nil bestmöglich einzuteilen. Nach der Teilung Sudans sind es jetzt elf Anrainer, die am Blauen und Weißen Nil liegen. Ägypten sei das Land mit der geringsten Eigenversorgung: „Wir haben weder Regen, den die anderen bekommen, noch Nebenflüsse, die Wasser zuliefern.“Die Wassermenge, die Ägypten bisher bekam, sei immer unzureichend gewesen. Mit dem Klimawandel werde es schlimmer.
Der äthiopische Damm sei jedoch eine Bedrohung, die alles Bisherige toppt, zumal andere Nilanrainer ebenfalls Dammbauten angekündigt hätten. Es habe in der Vergangenheit viele Ideen gegeben, wie dem zu begegnen sei, aber realisiert wurde keine. „Entweder es scheiterte am Geld, am politischen Willen oder an der Vorausschau in die Zukunft“, sagt al-Shennawi. „Oder an allen diesen Gründen zusammen“.
Nun baut sich ein derart gigantisches Projekt wie der äthiopische Damm nicht über Nacht. Seit Jahren sind die Planungen bekannt. Bereits Ende der 1990er-Jahre, spätestens aber im Jahre 2000 hätte Ägypten aufwachen und die Pläne der anderen Nilländer ernst nehmen müssen. Hinter vorgehaltener Hand räumen dies hohe Regierungsbeamte inzwischen sogar ein. Die Ägypter hätten ihre Nachbarn kontaktieren und zu Gesprächen einladen müssen, um eine Lösung zu finden. Jetzt scheint es allerdings fast zu spät zu sein. Die Mubarak-Administration dümpelte in den letzten Jahren ihrer Existenz in Agonie vor sich hin, bis der Langzeitherrscher im Februar 2011 zurücktreten musste.
Nachfolger Mohammed Mursi, der nur gut ein Jahr im Amt war, bevor er vom jetzigen Staatspräsidenten al-Sisi gestürzt wurde, wollte das Problem mit der Keule lösen. In einer geheimen Sitzung über die damals schon dramatische Situation des Nilwassers sagte der Muslimbruder, man werde zur Not die Armee einsetzen, um die Forderung Ägyptens durchzudrücken. Die Drohung wurde öffentlich, weil die Mikrofone nicht abgeschaltet waren. Ägyptens Nachbarn waren verärgert, aufgeschreckt und zu keinem Dialog mehr bereit. Al-Sisi hatte außerdem vor allem mit seinen innenpolitischen Gegnern zu tun. Hinzu kommen die ägyptischen Großprojekte eines zweiten Suezkanals und einer neuen Hauptstadt. Da blieb wenig Zeit für den Nil.
Erst die bevorstehende zweite Füllung des äthiopischen Renaissance-Damms lässt die Regierung in Kairo aktiv werden. Premierminister Mustafa Madbouli will einen Zehn-Jahres-Plan erarbeiten lassen, wie Wasser in Ägypten besser genutzt werden kann. Das meiste davon wird von der Landwirtschaft verbraucht, wo Einsparungen dringend geboten sind. Selbst wenn die Regierung in Kairo die anderen Nilländer davon überzeugen könnte, die bisherige jährliche Wassermenge von 55,5 Milliarden Kubikmetern beizubehalten, kann der Wasserbedarf für die schnell wachsende Bevölkerung nicht umfassend gedeckt werden. Doch die große Frage ist, ob die anderen Nilanrainerstaaten tatsächlich bereit sind, zugunsten Ägyptens auf weitere Dämme zu verzichten.
Kairo signalisiert Entgegenkommen. So hat die ägyptische Regierung den Nilnachbarn zugesagt, vermehrt Studenten an ägyptischen Universitäten ausbilden zu lassen, besonders an der islamischen Universität Al Azhar, der höchsten Instanz des sunnitischen Islam. Auch sollen Lehrer und Prediger in diese Länder entsandt werden. Ägypten will zudem Tansania beim Bau des Julius-Nyerere-Wasserkraftwerks und weiteren Projekten am Nil helfen und auch dazu beitragen, dass der Kongo in der Demokratischen Republik Kongo zwischen der Hauptstadt Kinshasa und Boma schiffbar gemacht werden kann. „Die Menschen in den anderen Nilländern müssen erfahren, dass sie vieles mit Ägypten verbindet“, sagt Amany al-Tawil vom Ahram-Zentrum für politische und strategische Studien in Kairo. „Und dass Ägypten nicht bloß am unteren Ende des Nils liegt.“
„Wir haben weder Regen noch Nebenflüsse, die Wasser zuliefern“
Ahmed al-Shennawi
Professor für Ingenieurweisen in Kairo