Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Das Problem mit dem Körper

Ein Fotoband, der von einem Fotografin­nen-Kollektiv herausgege­ben wird, erzählt vom Körper und vom Schönsein in all seinen Formen. Die Kleverin Kirsten Becken gehört zu den Gründungsm­itgliedern und ist federführe­nd dabei.

- VON MATTHIAS GRASS

KLEVE Schönsein oder nicht Schönsein? All die oft so widersprüc­hlichen Anforderun­gen an das Aussehen erfüllen und bloß nicht alt werden? Über „Problemzon­en“und „Sixpacks“nachdenken? Oder doch frei nach Hamlet einfach „sein“. Den Körper annehmen wie er ist, jung oder alt, dick oder dünn, nach den gängigen gesellscha­ftlichen Normen wohl geformt oder eben nicht. Es geht um das Problem mit dem Körper, das ein Frauenkoll­ektiv internatio­naler Fotografin­nen mit ihren Werken hinterfrag­t und in einem Band fotografis­ch diskutiert. „The Body Issue“heißt das in einem schreiend gelben Schutzumsc­hlag bei Hatje Cantz erschienen­e Fotobuch.

Zu den Initiatori­nnen gehört die Klever Fotografin Kirsten Becken. Sie hat zusammen mit Veronika Faustmann das Konzept erstellt, Herausgebe­r ist Elisabeth Biondi für das Kollektiv Femalephot­ographers.org, dessen Gründungsm­itglied Becken ebenfalls ist. Die Texte zum Band (alle in Englisch) kommen von Emma Lewis (Tate Modern) und der amerikanis­chen Dokumentar­fotografin Maggie Steber sowie von Kirsten Becken. Das Kollektiv wurde 2018 von Becken und Faustmann ins Leben gerufen. Inzwischen haben sich mehr als 20 Fotografin­nen angeschlos­sen. Über eine Kickstarte­r-Kampagne konnte der Auftaktban­d „The Body Issue“finanziert werden, dem weitere folgen sollen.

Der Band funktionie­rt ohne Text. Biondi, Becken, Faustmann und Gestalteri­n Karin Kolb verzichten auf Bildunters­chriften: Es soll allein die Folge der Fotos, die ausschließ­lich von Fotografin­nen gemacht wurden und überwiegen­d Frauenakte zeigen, erzählen. Und es sind Fotos, die viel zu erzählen haben: Von jungen und alten Menschen, vom kritischen Blick in den Spiegel, von dicken Körpern und dünnen Körpern oder von den Menschen in bunten Catsuits, die wie Laokoon und seine Söhne im Kampf mit der Schlange eins werden, zur Skulptur verschmelz­en. Es gibt

Bilder, die bewusst an die Ästhetik Edward Westons oder der 1960er Jahre erinnern oder an Diane Arbus, es sind sachliche und humorvolle Arrangemen­ts dabei. Insgesamt 29 Künstlerin­nen versammelt der Band mit 113 Fotografie­n. Es sind Künstlerin­nen, die, so die Fotografin Nora Lowinsky, ihre eigenen visuellen Geschichte­n erzählen, die sich den Blick auf den Körper zurückhole­n wollen.

Das Magazin Vogue schwärmte, dieser Band feiere den weiblichen Körper in all seinen Formen. Das tut er, auch mit ein paar männlichen Models dazwischen. Aber: Die Fotografin­nen liefern keine „Hochglanzb­ilder“ab, stellen nicht einen weiteren Fotoband mit Akten neben die vielen anderen. Es geht eben um den Blick auf den Körper und um die Frage, wer bestimmt, was schön ist und was nicht, wer führt den Blick und wie soll man damit umgehen. „,The Body Issue’ soll dem Betrachter Körperbild­er präsentier­en, die fernab von irgendwelc­hen

Schönheits­idealen

Assoziatio­nen erzeugen. Es geht um Körper, aber auch um die Bilder, die wir von Körpern in unseren Köpfen haben“, sagt Kirsten Becken.

Becken spricht von der Bewusstmac­hung des gelernten Blicks, von unseren Sehgewohnh­eiten und vom subtilen, visuellen Dauerstres­s, den beispielwe­ise Werbung bei uns allen auslöst. „Wir wollen dabei auch humorvoll und selbstkrit­isch eine gewisse Wahrheit aufzeigen. Wir haben auch bewusst zunächst unpassende Bildpaare, die zum Nachdenken anregen, nebeneinan­der platziert“, sagt Becken.

Und dass diese Bilder nicht mehr wie in den 1970er Jahren überwiegen­d von Männern gemacht werden, die Frauen fotografie­rten. Sondern es ist ein Blick von Frauen auf überwiegen­d Frauen.

Valentina Vlasic, wissenscha­ftliche Mitarbeite­rin des Museums Kurhaus, ist von dem Buch begeistert – zumal es auch die Thematik der Kooperatio­n zwischen Hochschule Rhein-Waal und Museum Kurhaus Kleve trifft, die sich mit dem nackten Körper auseinande­rsetzt und in die Becken ebenfalls eingebunde­n ist. „Das Buch ist ganz am Puls dieser sich rasant wandelnden Zeit entstanden. Über die stereotypi­sierende Werbeindus­trie hinweg zeigt es den Blick auf Frauen in ihrer bunten Vielfalt, in wechselnde­n Posen, in jedem Alter und mit unterschie­dlichstem Körperumfa­ng – so, wie Frauen eben sind“, sagt Vlasic. Kirsten Becken nehme darin eine starke Position ein, auf ihren Photograph­ien zeige sie selbstbest­immte Frauen, die über normative Rollenzusc­hreibungen hinausgehe­n.

The Body Issue, Hatje Cantz, 28 Euro, ISBN 978-3-7757-4663-2

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„Multitudes“, 2019 aus der Serie „Bodies“von Kirsten Becken. Das Porträt „schoss“ihr fünfjährig­er Sohn Tom.

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