Rheinische Post - Geldern an Kevelaer
Neidisch auf den Piks
Das Impfen spaltet die Gesellschaft: in jene, die wohl ihre Grundrechte zurückbekommen, und die, die für jede Unternehmung testen müssen. Noch gibt es Solidarität bei den Nicht-Geimpften – sie könnte aber schnell bröckeln.
Wahrscheinlich werden Menschen, die zweimal geimpft sind, demnächst wieder ungehindert in den Zoo gehen können. Oder ins Freibad. Oder in Geschäfte. Sie werden ihren Impfausweis zeigen, auf Papier oder digital, und Einlass bekommen. Sie werden sich auch in größeren Gruppen treffen dürfen. Die hingegen, die noch auf ihren Impftermin warten, werden sich weiter beschränken müssen, werden für jede Unternehmung negative Tests anbringen müssen – oder das Nachsehen haben. Bei Verabredungen wird das eine Rolle spielen. In Freundeskreisen wird bald jeder wissen, wer schon dran war, wer noch nicht.
Und schon jetzt hört man im Bekanntenkreis von diesem oder jener, die jünger sind als man selbst und auch nicht vorerkrankt – und trotzdem schon geimpft. Irgendwie gedeichselt, heißt es dann. Die Impfkampagne nimmt Fahrt auf, die Verlockung für Impf-Klüngel wächst. Doch zugleich wird Deutschland noch eine längere Zeit ein gespaltenes Land sein: eine Gesellschaft der Geimpften und der Nicht-Geimpften.
Das ist nicht zu ändern, und nach all dem Leid, das viele Familien hierzulande und noch mehr Menschen in anderen Teilen der Welt durch die Pandemie erleben, kann man wohl sagen: Es gibt Schlimmeres. Doch die Bevölkerung wird in den nächsten Monaten immer wieder Ungleichbehandlung erleben. Konkret. Im Alltag. Und es wird keinen anderen Grund dafür geben als die Tatsache, dass manche Menschen früher an den Piks kommen, andere später.
Natürlich wird das Neid erzeugen. Schon jetzt gibt es ja Geimpfte, die lieber nicht erzählen, dass sie schon dran waren, weil sie Missgunst befürchten. Oder eigentlich noch nicht dran waren. Und aus individuellen Neidgefühlen können auch gesellschaftliche Spannungen erwachsen. Nämlich dann, wenn zu viele Menschen das Gefühl bekommen, dass immer die Gleichen ganz vorn dabei sind, wenn es um begehrte Güter geht. Und sie selbst nie dazugehören.
Gesundheitsminister Jens Spahn hatte darum noch im Dezember an die Solidarität der Geimpften appelliert und davor gewarnt, Beschränkungen für sie aufzuheben, bevor nicht alle ein Impfangebot bekamen. Doch inzwischen hat das Robert-Koch-Institut bestätigt, dass Geimpfte, die sich an die Hygieneregeln halten, kaum eine Gefahr darstellen, andere zu infizieren.
Es gibt also keinen medizinischen Grund, ihnen ihre Grundrechte weiter vorzuenthalten, und damit ist die Aufhebung ihrer Beschränkungen wohl rechtlich geboten. Darum ist jetzt immer von einem neuen Solidarpakt die Rede: Von Nicht-Geimpften wird Großmut gefordert. Sie sollen sich gedulden, sollen sich ums Testen kümmern, sollen den anderen gönnen, dass sich deren Leben bereits normalisiert. Während sie selbst noch warten.
Peter Dabrock, Ethikprofessor in Erlangen und ehemaliger Vorsitzender des Deutschen Ethikrats, glaubt, dass es diese Großmut in weiten Teilen der Bevölkerung gibt. Auch weil viele Menschen sich freuten, wenn der Einzelhändler in ihrem Viertel oder die Stammkneipe um die Ecke endlich wieder öffnen könnte. Jeder Geimpfte trage dazu bei, dass die Normalität für alle möglichst schnell zurückkehren könne. Wenn Menschen in den digitalen Netzwerken verkünden, dass sie selbst oder Angehörige geimpft sind, ernteten sie in der Regel noch viele positive Kommentare. Allerdings kritisiert Dabrock, dass die Regierung vieles versäumt habe, um die Lage für die Nicht-Geimpften zu verbessern – und
„In Gruppe 4 könnten Termine zum Beispiel per Los vergeben werden“
Peter Dabrock Ethikprofessor in Erlangen
damit deren Ungerechtigkeitsempfinden zu dämpfen. Etwa hätte es viel früher massenweise kostenlose Tests geben müssen und dazu eine wirkliche Teststrategie. „Auch dass sich die Politik nicht zu einem kurzen, harten Lockdown durchringen konnte, um die Inzidenzen deutlich herunterzubringen, ist ein Versäumnis“, sagt Dabrock. Denn Tests ergäben eigentlich nur dann einen Sinn, wenn die Inzidenzwerte niedrig seien und Infektionscluster ermittelt werden könnten.
Kritisch sieht Dabrock auch, dass die Regierung bisher keine moralisch überzeugenden Kriterien entwickelt hat, nach denen demnächst die Impftermine innerhalb der Priorisierungsgruppe 4 verteilt werden. „Da sprechen wir über 45 Millionen Menschen“, sagt Dabrock, das sei ungefähr viermal die Bevölkerung Belgiens. „Für diese riesige Zahl an Leuten wird es demnächst einfach heißen: Seht zu, dass ihr an einen Impftermin kommt! Das bereitet den Nährboden für Ungerechtigkeitsempfinden“, sagt Dabrock. Denn Neidgefühle entstünden vor allem im gesellschaftlichen Nahbereich. Einem Superstar wie Fußballer Ronaldo neideten die Leute das Vermögen nicht. Neid werde erst dann zum giftigen Stachel, wenn es vergleichbaren Menschen deutlich besser gehe. „Gegen Impfneid hilft vor allem ein transparentes und akzeptiertes Vergabeverfahren“, sagt Dabrock, „innerhalb der Priorisierungsgruppe vier könnten die Termine zum Beispiel per Los vergeben werden.“
Bisher hat die Politik die Aufhebung der Priorisierung für die letzte Etappe der Impfkampagne dagegen wie einen Sieg verkündet. Als sei alleine dadurch etwas erreicht. In der Tat ist alles zu begrüßen, was die Impfkampagne weiter beschleunigt. Vor allem das Vermeiden umständlicher Bürokratie. Wenn dadurch jedoch schlechter informierte, schlechter vernetzte Bevölkerungsgruppen benachteiligt werden, birgt das sozialen Sprengstoff – und wird zu den Langzeitfolgen von Covid gehören.