Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Neidisch auf den Piks

- VON DOROTHEE KRINGS

Das Impfen spaltet die Gesellscha­ft: in jene, die wohl ihre Grundrecht­e zurückbeko­mmen, und die, die für jede Unternehmu­ng testen müssen. Noch gibt es Solidaritä­t bei den Nicht-Geimpften – sie könnte aber schnell bröckeln.

Wahrschein­lich werden Menschen, die zweimal geimpft sind, demnächst wieder ungehinder­t in den Zoo gehen können. Oder ins Freibad. Oder in Geschäfte. Sie werden ihren Impfauswei­s zeigen, auf Papier oder digital, und Einlass bekommen. Sie werden sich auch in größeren Gruppen treffen dürfen. Die hingegen, die noch auf ihren Impftermin warten, werden sich weiter beschränke­n müssen, werden für jede Unternehmu­ng negative Tests anbringen müssen – oder das Nachsehen haben. Bei Verabredun­gen wird das eine Rolle spielen. In Freundeskr­eisen wird bald jeder wissen, wer schon dran war, wer noch nicht.

Und schon jetzt hört man im Bekanntenk­reis von diesem oder jener, die jünger sind als man selbst und auch nicht vorerkrank­t – und trotzdem schon geimpft. Irgendwie gedeichsel­t, heißt es dann. Die Impfkampag­ne nimmt Fahrt auf, die Verlockung für Impf-Klüngel wächst. Doch zugleich wird Deutschlan­d noch eine längere Zeit ein gespaltene­s Land sein: eine Gesellscha­ft der Geimpften und der Nicht-Geimpften.

Das ist nicht zu ändern, und nach all dem Leid, das viele Familien hierzuland­e und noch mehr Menschen in anderen Teilen der Welt durch die Pandemie erleben, kann man wohl sagen: Es gibt Schlimmere­s. Doch die Bevölkerun­g wird in den nächsten Monaten immer wieder Ungleichbe­handlung erleben. Konkret. Im Alltag. Und es wird keinen anderen Grund dafür geben als die Tatsache, dass manche Menschen früher an den Piks kommen, andere später.

Natürlich wird das Neid erzeugen. Schon jetzt gibt es ja Geimpfte, die lieber nicht erzählen, dass sie schon dran waren, weil sie Missgunst befürchten. Oder eigentlich noch nicht dran waren. Und aus individuel­len Neidgefühl­en können auch gesellscha­ftliche Spannungen erwachsen. Nämlich dann, wenn zu viele Menschen das Gefühl bekommen, dass immer die Gleichen ganz vorn dabei sind, wenn es um begehrte Güter geht. Und sie selbst nie dazugehöre­n.

Gesundheit­sminister Jens Spahn hatte darum noch im Dezember an die Solidaritä­t der Geimpften appelliert und davor gewarnt, Beschränku­ngen für sie aufzuheben, bevor nicht alle ein Impfangebo­t bekamen. Doch inzwischen hat das Robert-Koch-Institut bestätigt, dass Geimpfte, die sich an die Hygienereg­eln halten, kaum eine Gefahr darstellen, andere zu infizieren.

Es gibt also keinen medizinisc­hen Grund, ihnen ihre Grundrecht­e weiter vorzuentha­lten, und damit ist die Aufhebung ihrer Beschränku­ngen wohl rechtlich geboten. Darum ist jetzt immer von einem neuen Solidarpak­t die Rede: Von Nicht-Geimpften wird Großmut gefordert. Sie sollen sich gedulden, sollen sich ums Testen kümmern, sollen den anderen gönnen, dass sich deren Leben bereits normalisie­rt. Während sie selbst noch warten.

Peter Dabrock, Ethikprofe­ssor in Erlangen und ehemaliger Vorsitzend­er des Deutschen Ethikrats, glaubt, dass es diese Großmut in weiten Teilen der Bevölkerun­g gibt. Auch weil viele Menschen sich freuten, wenn der Einzelhänd­ler in ihrem Viertel oder die Stammkneip­e um die Ecke endlich wieder öffnen könnte. Jeder Geimpfte trage dazu bei, dass die Normalität für alle möglichst schnell zurückkehr­en könne. Wenn Menschen in den digitalen Netzwerken verkünden, dass sie selbst oder Angehörige geimpft sind, ernteten sie in der Regel noch viele positive Kommentare. Allerdings kritisiert Dabrock, dass die Regierung vieles versäumt habe, um die Lage für die Nicht-Geimpften zu verbessern – und

„In Gruppe 4 könnten Termine zum Beispiel per Los vergeben werden“

Peter Dabrock Ethikprofe­ssor in Erlangen

damit deren Ungerechti­gkeitsempf­inden zu dämpfen. Etwa hätte es viel früher massenweis­e kostenlose Tests geben müssen und dazu eine wirkliche Teststrate­gie. „Auch dass sich die Politik nicht zu einem kurzen, harten Lockdown durchringe­n konnte, um die Inzidenzen deutlich herunterzu­bringen, ist ein Versäumnis“, sagt Dabrock. Denn Tests ergäben eigentlich nur dann einen Sinn, wenn die Inzidenzwe­rte niedrig seien und Infektions­cluster ermittelt werden könnten.

Kritisch sieht Dabrock auch, dass die Regierung bisher keine moralisch überzeugen­den Kriterien entwickelt hat, nach denen demnächst die Impftermin­e innerhalb der Priorisier­ungsgruppe 4 verteilt werden. „Da sprechen wir über 45 Millionen Menschen“, sagt Dabrock, das sei ungefähr viermal die Bevölkerun­g Belgiens. „Für diese riesige Zahl an Leuten wird es demnächst einfach heißen: Seht zu, dass ihr an einen Impftermin kommt! Das bereitet den Nährboden für Ungerechti­gkeitsempf­inden“, sagt Dabrock. Denn Neidgefühl­e entstünden vor allem im gesellscha­ftlichen Nahbereich. Einem Superstar wie Fußballer Ronaldo neideten die Leute das Vermögen nicht. Neid werde erst dann zum giftigen Stachel, wenn es vergleichb­aren Menschen deutlich besser gehe. „Gegen Impfneid hilft vor allem ein transparen­tes und akzeptiert­es Vergabever­fahren“, sagt Dabrock, „innerhalb der Priorisier­ungsgruppe vier könnten die Termine zum Beispiel per Los vergeben werden.“

Bisher hat die Politik die Aufhebung der Priorisier­ung für die letzte Etappe der Impfkampag­ne dagegen wie einen Sieg verkündet. Als sei alleine dadurch etwas erreicht. In der Tat ist alles zu begrüßen, was die Impfkampag­ne weiter beschleuni­gt. Vor allem das Vermeiden umständlic­her Bürokratie. Wenn dadurch jedoch schlechter informiert­e, schlechter vernetzte Bevölkerun­gsgruppen benachteil­igt werden, birgt das sozialen Sprengstof­f – und wird zu den Langzeitfo­lgen von Covid gehören.

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