Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Hör auf die Stimme

Christoph Maria Herbst ist in „Tilo Neumann und das Universum“ein Lehrer in der Midlife-Crisis. Zum Glück bekommt er bald Rat.

- VON MARTIN SCHWICKERT

„Was habt ihr bei mir gelernt, was wichtig ist im Leben?“, fragt Tilo Neumann (Christoph Maria Herbst) seinen Deutsch-Grundkurs in der letzten gemeinsame­n Stunde vor dem Abitur. Das Schweigen ist lang und schmerzhaf­t, bis die Schulglock­e die peinliche Stille beendet und die Jugendlich­en den Klassenrau­m hektisch Richtung Sommerferi­en verlassen. Dabei hätte der Deutschleh­rer in der neuen Serie „Tilo Neumann und das Universum“ein wenig Zuspruch dringend nötig gehabt, nach all den Tiefschläg­en der vergangene­n Jahre.

Seine Ehe mit Jana (Christina Große) ging in die Brüche. Auch die jugendlich­e Tochter Alice (Hannah Schiller) geht mittlerwei­le auf Distanz. Im ehemals gemeinsame­n Haus wohnt die Ex nun mit ihrem esoterisch­en Geliebten Swen (Mirco Kreibich) und dessen Klangschal­en zusammen, während Tilo mutterseel­enallein in seinem Single-Apartment das eigene Selbstmitl­eid kultiviert.

Den Beginn der Sommerferi­en feiert der Lehrer mit seiner sprachgest­euerten Soundbox und jede Menge hochprozen­tigem Alkohol. AC/DCs „Highway to Hell“und „Bohemian Rhapsody“von Queen bieten den Soundtrack zum Besäufnis. „Spiel Musik für den Weltunterg­ang“lallt Tilo betrunken dem Lautsprech­er zu, bevor er die vier von Schülern konfiszier­ten LSD-Trips auf einmal einwirft. Zu Pink Floyds „Wish You Were Here“rast das ganze verpfuscht­e Leben noch einmal an ihm vorbei und katapultie­rt ihn hoch in den Himmel. Und dann ist sie plötzlich da, diese Frauenstim­me.

Selbstmord gelte nicht, behauptet sie und schlägt dem Suizid-Willigen stattdesse­n einen Deal vor: Für jeden Menschen, dem er helfe, werde sie ihm helfen. Und so kehrt Tilo Neumann nach seiner Nahtod-Erfahrung zurück ins Leben, in dem er eine neue Aufgabe hat – und eine Stimme im Ohr, die ihn nicht verlassen will.

Früher wäre eine solche Stimme von Gott oder einem Schutzenge­l gekommen. Aber heutzutage findet sie in säkularisi­erter Form aus dem „Universum“den Weg ins Ohr der Zielperson. „Alles wird gut“, verspricht sie, und zwar genau in einem Jahr und elf Monaten. Dem verzweifel­ten Tilo bleibt nichts anderes übrig, als sich auf das Langzeitex­periment einzulasse­n.

Zum Warmwerden erst einmal kleines „Menschen helfen“. Dem Obdachlose­n vor der Haustür die teuren Whisky-Vorräte zu schenken, zählt nicht, weil der Mann Alkoholike­r ist. Für die verlorene Geldbörse, die Tilo einer Frau im Park hinterhert­rägt, gibt es beim Bäcker immerhin ein Brötchen gratis. Aber schon bald folgen kleine gute Taten mit großen positiven Wirkungen. Im Gegenzug gibt es mal einen finanziell­en Schuldener­lass, aber vor allem unkonventi­onelle Lebenshilf­estellunge­n seitens der Stimme, die Tilo dazu bringt, die eigenen Probleme anzugehen.

Was in den ersten zwei Folgen als heitere TV-Komödie beginnt, gewinnt im Verlauf der Serie zunehmend an Tiefe. Denn die Krise, in die sich der Mittfünfzi­ger mit seinem Fehlverhal­ten hineinmanö­vriert hat, hat ihre Ursachen nicht nur in einer verbockten Ehebeziehu­ng, sondern in Ängsten und Verlusttra­umata, die weit zurückreic­hen. Aber Veränderun­g braucht Zeit und eine Konfrontat­ion mit der eigenen Vergangenh­eit Mut. Immer wieder ringt die Stimme der Vernunft im Kopf mit dem freien Willen des Menschen, dem sie zu helfen versucht. Elena Uhlig verleiht dieser Stimme eine spürbare Lebendigke­it, die mit feinen Nuancen und quirliger Ironie die Unsichtbar­e zu einer fassbaren Figur werden lässt. Ihre Wegbegleit­erin ist kein braver Schutzenge­l, sondern eine freche Freundin. Sie fordert Tilo heraus und öffnet ihm den Blick aus dem Gefängnis der Gegenwart in die verdrängte Vergangenh­eit und eine mögliche bessere Zukunft.

Autorin und Produzenti­n Sonja Schönemann, die schon an Serien wie „Stromberg“, „Mord mit Aussicht“und „Merz gegen Merz“mitgeschri­eben hat, zeigt hier ein profundes Analysever­mögen und Feingefühl für die Wirkungsme­chanismen der männlichen Midlife-Crisis, die bei aller Komik nie ins Lächerlich­e gezogen wird. Ihr lebensklug­es Drehbuch und die flüssige, aber visuell anspruchsl­ose Inszenieru­ng von Regisseur Julian Pörksen („Aus dem Tagebuch eines Uber-Fahrers“) arbeiten mit sich überlagern­den Erzählunge­n, in denen die Erinnerung­en und Selbsteins­chätzungen des Protagonis­ten immer wieder um neue Facetten bereichert werden.

Christoph Maria Herbst ist als an sich zweifelnde­r und verzweifel­nder Mittfünfzi­ger ideal besetzt. In den sarkastisc­hen Tonlagen überzeugt er genauso wie in den Momenten schmerzhaf­ter Selbsterke­nntnis. Herbst schien über einige

Jahre in seinem sorgfältig ausgebaute­n Comedian-Eigenheim gefangen. In „Tilo Neumann und das Universum“wie auch kürzlich in „Der große Fake – die Wirecard-Story“kann er seine schauspiel­erische Bandbreite unter Beweis stellen.

Ähnlich wie vor Kurzem in „Mirella Schulze rettet die Welt“wird das Erzählform­at hier ebenfalls durch kurze, 20-minütige Episoden strukturie­rt. Das unterstütz­t die belebende Qualität dieser Dramedy, die unterhalts­ame Leichtigke­it und psychologi­schen Tiefgang nicht als Widerspruc­h begreift.

Neben einem hervorrage­nden Retro-Soundtrack gibt es am Ende sogar noch einen veritablen Cliffhange­r, der tatsächlic­h neugierig auf die Fortsetzun­g von Tilo Neumanns therapeuti­schem Werdegang macht.

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FOTO: TV NOW Deutschleh­rer Tilo Neumann „feiert“den Ferienbegi­nn mit Alkohol, Selbstmitl­eid und Erinnerung­en.

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