Rheinische Post - Geldern an Kevelaer
Haftstrafen für „kleine Fische“
Urteilsspruch im Prozess um die illegale Zigarettenfabrik in Kranenburg: Die osteuropäischen Produktionsmitarbeiter müssen für zweieinhalb Jahre in Haft. Die Kammer ist sich sicher: Die Köpfe der Bande standen nicht vor Gericht.
KRANENBURG/DÜSSELDORF Die Dimensionen der illegalen Zigarettenfabrik in Kranenburg waren beachtlich: Wöchentlich sollen mehr als 500.000 Schachteln vom Band gegangen sein, elf Millionen Zigaretten wurden vor Ort sichergestellt, dazu sechs Tonnen unverarbeiteter Tabak. Über Jahre hinweg wurde in der 10.000-Einwohner-Gemeinde eine der größten jemals in Deutschland entdeckten Zigarettenfabriken betrieben. Der Absatzmarkt: Großbritannien. Den Steuerschaden beziffert die Staatsanwaltschaft Kleve auf 1,8 Millionen Euro. Als eine Spezialeinheit von Zoll und Bundespolizei die Produktionsstätte im August 2020 stürmte, konnten zwölf Männer aus Polen und der Ukraine im Alter von 28 bis 59 Jahren festgenommen werden.
Sie mussten sich nun im Hochsicherheitssaal des Oberlandesgerichts Düsseldorf wegen bandenmäßiger Steuerhinterziehung großen Ausmaßes, banden- und gewerbsmäßiger Steuerhehlerei sowie wegen des Verstoßes gegen das Markengesetz verantworten. Am Mittwochmittag wurde ein Urteil gegen die Osteuropäer gesprochen. Auf sie kommen Freiheitsstrafen von zwei Jahren und sechs Monaten zu. Zudem haben die Männer Steuerbescheide in Millionenhöhe erhalten, die sie vermutlich noch bis zum Lebensende beschäftigen werden.
Der Vorsitzende Richter Christian Henckel erklärte, dass die Männer als Teil einer kriminellen Organisation angesehen werden müssten. Es seien „gigantische Mengen Zigaretten“hergestellt worden, so Henckel. Daran, dass die Beschuldigten von der Illegalität gewusst haben, habe die Kammer keine Zweifel. „Das in Kranenburg waren heruntergekommene Hallen mit selbstgebastelten Dämmungsmaßnahmen, alten Maschinen und abenteuerlichen
Stromverbindungen. Das war sicherlich kein Werk von British American Tobacco und erst recht nicht von einem Gemüseverkauf“, sagte Henckel im Rahmen der Urteilsverkündung.
Von den zwölf Angeklagten waren neun an den Produktionsmaschinen tätig, drei von ihnen waren für den Abtransport der Zigaretten zuständig. Während des Prozesses gaben sie sich wortkarg, aber weitgehend geständig. Sie seien in Polen für die Arbeit angeworben worden – ohne darüber informiert zu werden, welcher Tätigkeit sie in Deutschland genau nachgehen sollen. Sie unterzeichneten gefälschte Arbeitsverträge und stellten in Kranenburg illegal Zigaretten her. Hinweise auf die Produktion gab es für Außenstehende offenbar nicht. Es gab keine Beschilderung, keine Fenster in der Halle, auch sonst keine Anzeichen für illegales Geschäftstreiben. Die Fabrikanten setzten dieselbetriebene Stromaggregate ein, um nicht durch hohe Stromkosten aufzufallen. Außerdem durften die Beschuldigten vor Ort keine Handys oder Laptops verwenden.
Die Beschuldigten, allesamt ohne Vorstrafen, erlebten eine düstere Zeit in der Zigarettenfabrik. Für einen Lohn von 2000 Euro pro Monat verbrachten viele von ihnen Tag und Nacht unter unwürdigen Bedingungen in der Halle. Die Sicherheitsvorkehrungen waren miserabel. „Sie haben belastende und hochgradig gefährliche Arbeit geleistet – und in haftähnlichen Bedingungen gehaust“, sagte Staatsanwältin Christina Lindner. Die Tätigkeit hätten sie aus wirtschaftlicher Not angetreten, um sich und ihre Familien in Polen und der Ukraine zu ernähren.
Von den Gewinnen hätten sie nicht oder kaum profitiert. Christina Lindner erklärte weiter, dass hinter der Fabrik „enorme Geldflüsse“gesteckt hätten. Die Hintermänner aber saßen in Düsseldorf nicht auf der Anklagebank. Die Strippenzieher der Zigaretten-Mafia konnten trotz umfangreicher Ermittlungen nicht ausfindig gemacht werden. Allerdings müsse man mit dem Prozess gegen die Osteuropäer ein Zeichen an ehrliche Steuerzahler senden, so die Staatsanwältin. „Steuerschäden sind Schäden am Allgemeinwohl. Man könnte sagen, dass deshalb Gelder an anderer Stelle fehlen. Es handelt sich um einen Schaden am Geldbeutel jeden Steuerzahlers“, sagte Lindner im Rahmen ihres Plädoyers. Sie forderte Freiheitsstrafen von mindestens zweieinhalb Jahren.
Mehrere der insgesamt 20 Verteidiger plädierten für milde Strafen. Die Beschuldigten seien von einer legalen Tätigkeit ausgegangen, sie hätten in blanker Not gehandelt. Die Osteuropäer, die zum „untersten Rand der Organisation“zählten und „kleine Fische“gewesen seien, müssten nun ausbaden, was von anderen ausgeheckt worden sei. „Es ist jetzt genau das eingetreten, was die Organisatoren im Sinn hatten: dass die tatsächlich Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft gezogen werden“, sagte einer der Rechtsanwälte. Bei den Angeklagten herrschte nach der Urteilsverkündung übrigens bemerkenswerte Euphorie. Immerhin dürfen sie nach achteinhalb Monaten Untersuchungshaft nun erst einmal in ihre Heimatländer zurück, ehe sie in Deutschland die Haft antreten.