Rheinische Post - Geldern an Kevelaer
Chinatown wehrt sich gegen Rassismus
Freiwillige laufen zweimal in der Woche Patrouille durch das New Yorker Viertel. Sie wollen asiatischstämmige Mitbürger schützen, die in der Pandemie zur Zielscheibe von Angriffen geworden sind, und ein Zeichen der Solidarität setzen.
NEW YORK
Bei Wah Fung hängen wieder Pekingenten im Fenster. Mittags stehen die Kunden wieder Schlange vor dem kleinen Imbisslokal an der Chrystie Street im Süden Manhattans. Aus der Mei Lai Wah Bakery, ein paar Ecken weiter, zieht wieder Kaffeeduft. Vor dem Wonton Noodle Garden haben sie einen überlangen Holzschuppen an den Straßenrand gestellt, nach allen Seiten offen, mit einem Dach aus gewelltem Kunststoff und Kirschblüten als Dekoration. Es ist die Al-fresco-Variante für Gäste, die sich noch nicht ins Innere eines Restaurants trauen. Über den Köpfen schweben, angebracht an quer über die Mott Street gespannten Wäscheleinen, rote und gelbe Lampions.
„Man kann sich kaum vorstellen, was für eine Geisterstadt das vor Kurzem noch war“, sagt Karlin
Chan und greift sich, ganz Lokalpatriot, an einem Souvenirstand ein schwarzgelbes Autonummernschild, auf dem „Chinatown“steht. Chan, der für einen Telekommunikationskonzern Glasfaserkabel verlegte, lebt seit fast 60 Jahren in dem Viertel. Er vertritt es in einem Beratergremium der Stadtverwaltung, manche nennen ihn den inoffiziellen Bürgermeister von Chinatown. Er hat dessen rasante Entwicklung erlebt, verbunden mit dem vom Terror am 11. September 2001 nur kurz unterbrochenen Touristenboom.
Und dann kam der Absturz ins Bodenlose, im Winter 2020. Schon im Februar vor einem Jahr, Wochen bevor in den USA der erste Lockdown verfügt wurde, war das sonst so pulsierende Leben lähmender Stille gewichen. Während gespenstische Aufnahmen aus dem abgeriegelten Wuhan über die Bildschirme flimmerten, ließ die Angst, sich in Chinatown anzustecken, die vielen kleinen Gaststätten rund drei Viertel ihres Umsatzes einbüßen. Statt der Touristen kamen Leute, die ihren Frust abreagierten. Damals begann Chan, begleitet von Freunden, auf Rundgängen nach dem Rechten zu sehen. Daraus wurde eine Institution, die Chinatown Block Watch.
Mittlerweile sind es ungefähr 40 Freiwillige, die abwechselnd mitmachen. Zweimal die Woche, donnerstags und sonntags. „Ein Signal“, sagt Chan. „Es soll die Nerven beruhigen.“Wobei Teil der Signalwirkung ist, dass die Streife keineswegs nur aus Amerikanern asiatischer Herkunft besteht. Dabei sind auch Adrian Carr und Thomas Mason, ein 55 Jahre alter Schwarzer und ein 28-jähriger Weißer, einer von mehreren Weißen, die Chans Aufruf gefolgt sind. New Yorker kümmern sich um New Yorker. Die Weltstadt lässt sich nicht aus der Bahn werfen von Dumpfbacken, die nach Sündenböcken suchen. Das ist die Botschaft.
Carr, ein IT-Experte, der fluchen kann wie ein Bierkutscher, lebt in Inwood, an der Nordspitze der Insel Manhattan, mit der Subway, der U-Bahn, eine Dreiviertelstunde entfernt. Dass er nach Chinatown fährt, um Patrouille zu laufen, ist für ihn „eine Frage des Prinzips“. „In dieser Stadt bist du Mensch. In dieser Stadt wirst du nicht in Schubladen sortiert, hier wird keiner ausgegrenzt.“Mason hat mit der Corona-Krise gelernt, wie schnell einige bereit sind, rassistischen Ressentiments freien Lauf zu lassen. Offen auszusprechen, was sie offenbar schon immer dachten. Mason hackt legal Computer, um Behörden und Unternehmen die Schwachstellen ihrer Computersysteme aufzuzeigen. Er wohnt in Tribeca, einem angesagten Stadtteil westlich von Chinatown. Seine chinesischstämmige Freundin, erzählt er, habe neuerdings Angst vor Attacken. „Es ist nicht so, dass sie sich nicht mehr auf die Straße traut. Aber allein schon die Tatsache, dass sie sich Sorgen machen muss, allein dieser mentale Zaun – für mich ist das völlig inakzeptabel.“
Immer wieder werden Asian Americans zu Zielscheiben, auch in New York. Im vergangenen April spritzte ein Unbekannter einer Frau, Ende 30, von hinten Säure über die Haare, als sie ihren Müll nach draußen brachte. Im Juli steckten zwei Teenager die Bluse einer 89-Jährigen in Brand. Zum Glück gelang es ihr, die Flammen zu löschen. Im Februar musste ein 36 Jahre alter Mann nach einer Messerattacke in Chinatown notoperiert werden. Ende März wurde in Midtown Manhattan eine zierliche Rentnerin, einst aus den Philippinen eingewandert, vor der breiten Glastür eines Apartmenthauses zu Boden gestoßen und mit Füßen getreten. „Du hast hier nichts zu suchen!“, schrie der Angreifer. Als sie sich aufrappelte, schloss ein Wachmann, der von drinnen alles mitverfolgt hatte, die Tür des Gebäudes, statt der Frau zu helfen.
Der Demokrat Andrew Yang, Sohn von Einwanderern aus Taiwan, chancenreicher Kandidat für den Bürgermeisterposten New Yorks, empfahl Asian Americans danach, sich nur noch in Gruppen, zumindest zu zweit, im Freien zu bewegen. 2019 waren es drei Berichte über sogenannte Hate Crimes, Hassverbrechen, an New Yorkern asiatischer Herkunft, die bei der Polizei eingingen. 2020 stieg die Zahl auf 28, dieses Jahr sind es schon jetzt mehr als 40.
Die Dunkelziffer liegt deutlich höher, glaubt Chan. Längst nicht jedes Hassverbrechen werde gemeldet. In Chinatown habe jahrzehntelanges Misstrauen gegenüber der Polizei Spuren hinterlassen. Insbesondere Ältere zögerten, Anzeige zu erstatten. Schläge einstecken, Kopf runter und weiterarbeiten, das sei für viele die Devise. Wie es tatsächlich aussieht, weiß Chan besser als die Ordnungshüter. Ihm vertrauen skeptische Anwohner eher an, was ihnen widerfahren ist. Auch deshalb dreht er seine Runden. Manchmal notiert er, was er erfährt, um es an die Behörden weiterzugeben.
Chan widerspricht resolut, wenn bisweilen so getan wird, als wäre die Feindseligkeit in erster Linie dem grassierenden Coronavirus zuzuschreiben. „Wir waren schon immer die Minderheit, die schnell ins Fadenkreuz geriet“, wirft der Mann, der ansonsten hemdsärmeligen Optimismus ausstrahlt, in einem plötzlichen Anflug von Bitterkeit ein. „Du kannst dich anstrengen, wie du willst, am Ende bist du nicht weiß genug“, sagt er und setzt zu einem kleinen Geschichtsvortrag an.
Der beginnt mit Malochern aus China, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den westlichen Teil der Eisenbahn bauten, die erstmals
quer durch den nordamerikanischen Kontinent führte. Eine fast hysterische Angst vor billiger Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt veranlasste den Kongress, im Jahr 1882 den „Chinese Exclusion Act“zu verabschieden. Ein Gesetz, das jeglicher Einwanderung aus Ostasien einen Riegel vorschob, während die Tore für Europäer zunächst weit geöffnet blieben. Erst 1965 ersetzte man es durch eine ausgewogenere Quotenregelung. Aus Chinatown, lange auf zwei, drei Straßenzüge beschränkt, wurde nach und nach, auf dem Höhepunkt mit fast 150.000 Bewohnern, die größte chinesische Gemeinde der westlichen Hemisphäre. Chan war ein Kleinkind, als seine Familie in den 60ern aus der Provinz Guangdong im Süden Chinas in die Neue Welt zog. Seither hat er immer nur in Chinatown gelebt. „Mein Heimatdorf“, bemerkt er schmunzelnd.
Es gibt noch ein Klischee, dem er sofort widerspricht: der Tatsache, dass Migranten aus Asien, ob sie nun aus China, Südkorea oder Vietnam stammen, lange als „Model Minority“gefeiert wurden. Als ethnische Minderheit, an der sich andere Minderheiten ein Beispiel nehmen sollten. Bienenfleißig, anpassungsfähig und resilient. Und erfolgreich. „Letzteres ist ein Mythos“, protestiert Chan. „In New York führt jeder Dritte von uns ein Leben unterhalb der Armutsgrenze.“Was allerdings stimme: Schon aus kulturellen Gründen falle es Menschen mit Wurzeln in Asien bisweilen schwer, sich in gebotener Lautstärke am sehr lauten, sehr kontroversen politischen Diskurs Amerikas zu beteiligen.
Auf die Jüngeren trifft das allerdings immer weniger zu. Es gibt Foren, in denen Heranwachsende Tacheles reden, etwa den Podcast „The Dragons Kids“, ins Leben gerufen von Schülern aus Chinatown. Zu Beginn der Pandemie, erzählt die Zehntklässlerin Lily Zheng, habe sie ihrer Mutter alle paar Minuten eine Textnachricht aufs Handy geschickt. „Ich wollte sichergehen, dass sie nicht irgendwer auf die U-Bahn-Gleise geschubst hatte.“
Amanda Chen berichtete von Gesprächen mit ihrem Vater, der abblockte, sobald sie über Diskriminierung klagte. „Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten, lass dich in nichts hineinziehen, das ist seine Maxime“, berichtet sie. Sie sehe das anders, macht das Mädchen in dem Podcast klar. Chan steht in dem Generationenkonflikt, wenn es denn einer ist, auf der Seite der Schüler. „Das Schweigen“, sagt er, „kann für uns keine Alternative mehr sein.“
„Man kann sich kaum vorstellen, was für eine Geisterstadt das vor Kurzem noch war“
Karlin Chan
Organisator der Patrouille
„In dieser Stadt wirst du nicht in Schubladen sortiert, hier wird keiner ausgegrenzt“
Adrian Carr Mitglied der Patrouille