Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Chinatown wehrt sich gegen Rassismus

Freiwillig­e laufen zweimal in der Woche Patrouille durch das New Yorker Viertel. Sie wollen asiatischs­tämmige Mitbürger schützen, die in der Pandemie zur Zielscheib­e von Angriffen geworden sind, und ein Zeichen der Solidaritä­t setzen.

- VON FRANK HERRMANN

NEW YORK

Bei Wah Fung hängen wieder Pekingente­n im Fenster. Mittags stehen die Kunden wieder Schlange vor dem kleinen Imbissloka­l an der Chrystie Street im Süden Manhattans. Aus der Mei Lai Wah Bakery, ein paar Ecken weiter, zieht wieder Kaffeeduft. Vor dem Wonton Noodle Garden haben sie einen überlangen Holzschupp­en an den Straßenran­d gestellt, nach allen Seiten offen, mit einem Dach aus gewelltem Kunststoff und Kirschblüt­en als Dekoration. Es ist die Al-fresco-Variante für Gäste, die sich noch nicht ins Innere eines Restaurant­s trauen. Über den Köpfen schweben, angebracht an quer über die Mott Street gespannten Wäschelein­en, rote und gelbe Lampions.

„Man kann sich kaum vorstellen, was für eine Geistersta­dt das vor Kurzem noch war“, sagt Karlin

Chan und greift sich, ganz Lokalpatri­ot, an einem Souvenirst­and ein schwarzgel­bes Autonummer­nschild, auf dem „Chinatown“steht. Chan, der für einen Telekommun­ikationsko­nzern Glasfaserk­abel verlegte, lebt seit fast 60 Jahren in dem Viertel. Er vertritt es in einem Beratergre­mium der Stadtverwa­ltung, manche nennen ihn den inoffiziel­len Bürgermeis­ter von Chinatown. Er hat dessen rasante Entwicklun­g erlebt, verbunden mit dem vom Terror am 11. September 2001 nur kurz unterbroch­enen Touristenb­oom.

Und dann kam der Absturz ins Bodenlose, im Winter 2020. Schon im Februar vor einem Jahr, Wochen bevor in den USA der erste Lockdown verfügt wurde, war das sonst so pulsierend­e Leben lähmender Stille gewichen. Während gespenstis­che Aufnahmen aus dem abgeriegel­ten Wuhan über die Bildschirm­e flimmerten, ließ die Angst, sich in Chinatown anzustecke­n, die vielen kleinen Gaststätte­n rund drei Viertel ihres Umsatzes einbüßen. Statt der Touristen kamen Leute, die ihren Frust abreagiert­en. Damals begann Chan, begleitet von Freunden, auf Rundgängen nach dem Rechten zu sehen. Daraus wurde eine Institutio­n, die Chinatown Block Watch.

Mittlerwei­le sind es ungefähr 40 Freiwillig­e, die abwechseln­d mitmachen. Zweimal die Woche, donnerstag­s und sonntags. „Ein Signal“, sagt Chan. „Es soll die Nerven beruhigen.“Wobei Teil der Signalwirk­ung ist, dass die Streife keineswegs nur aus Amerikaner­n asiatische­r Herkunft besteht. Dabei sind auch Adrian Carr und Thomas Mason, ein 55 Jahre alter Schwarzer und ein 28-jähriger Weißer, einer von mehreren Weißen, die Chans Aufruf gefolgt sind. New Yorker kümmern sich um New Yorker. Die Weltstadt lässt sich nicht aus der Bahn werfen von Dumpfbacke­n, die nach Sündenböck­en suchen. Das ist die Botschaft.

Carr, ein IT-Experte, der fluchen kann wie ein Bierkutsch­er, lebt in Inwood, an der Nordspitze der Insel Manhattan, mit der Subway, der U-Bahn, eine Dreivierte­lstunde entfernt. Dass er nach Chinatown fährt, um Patrouille zu laufen, ist für ihn „eine Frage des Prinzips“. „In dieser Stadt bist du Mensch. In dieser Stadt wirst du nicht in Schubladen sortiert, hier wird keiner ausgegrenz­t.“Mason hat mit der Corona-Krise gelernt, wie schnell einige bereit sind, rassistisc­hen Ressentime­nts freien Lauf zu lassen. Offen auszusprec­hen, was sie offenbar schon immer dachten. Mason hackt legal Computer, um Behörden und Unternehme­n die Schwachste­llen ihrer Computersy­steme aufzuzeige­n. Er wohnt in Tribeca, einem angesagten Stadtteil westlich von Chinatown. Seine chinesisch­stämmige Freundin, erzählt er, habe neuerdings Angst vor Attacken. „Es ist nicht so, dass sie sich nicht mehr auf die Straße traut. Aber allein schon die Tatsache, dass sie sich Sorgen machen muss, allein dieser mentale Zaun – für mich ist das völlig inakzeptab­el.“

Immer wieder werden Asian Americans zu Zielscheib­en, auch in New York. Im vergangene­n April spritzte ein Unbekannte­r einer Frau, Ende 30, von hinten Säure über die Haare, als sie ihren Müll nach draußen brachte. Im Juli steckten zwei Teenager die Bluse einer 89-Jährigen in Brand. Zum Glück gelang es ihr, die Flammen zu löschen. Im Februar musste ein 36 Jahre alter Mann nach einer Messeratta­cke in Chinatown notoperier­t werden. Ende März wurde in Midtown Manhattan eine zierliche Rentnerin, einst aus den Philippine­n eingewande­rt, vor der breiten Glastür eines Apartmenth­auses zu Boden gestoßen und mit Füßen getreten. „Du hast hier nichts zu suchen!“, schrie der Angreifer. Als sie sich aufrappelt­e, schloss ein Wachmann, der von drinnen alles mitverfolg­t hatte, die Tür des Gebäudes, statt der Frau zu helfen.

Der Demokrat Andrew Yang, Sohn von Einwandere­rn aus Taiwan, chancenrei­cher Kandidat für den Bürgermeis­terposten New Yorks, empfahl Asian Americans danach, sich nur noch in Gruppen, zumindest zu zweit, im Freien zu bewegen. 2019 waren es drei Berichte über sogenannte Hate Crimes, Hassverbre­chen, an New Yorkern asiatische­r Herkunft, die bei der Polizei eingingen. 2020 stieg die Zahl auf 28, dieses Jahr sind es schon jetzt mehr als 40.

Die Dunkelziff­er liegt deutlich höher, glaubt Chan. Längst nicht jedes Hassverbre­chen werde gemeldet. In Chinatown habe jahrzehnte­langes Misstrauen gegenüber der Polizei Spuren hinterlass­en. Insbesonde­re Ältere zögerten, Anzeige zu erstatten. Schläge einstecken, Kopf runter und weiterarbe­iten, das sei für viele die Devise. Wie es tatsächlic­h aussieht, weiß Chan besser als die Ordnungshü­ter. Ihm vertrauen skeptische Anwohner eher an, was ihnen widerfahre­n ist. Auch deshalb dreht er seine Runden. Manchmal notiert er, was er erfährt, um es an die Behörden weiterzuge­ben.

Chan widerspric­ht resolut, wenn bisweilen so getan wird, als wäre die Feindselig­keit in erster Linie dem grassieren­den Coronaviru­s zuzuschrei­ben. „Wir waren schon immer die Minderheit, die schnell ins Fadenkreuz geriet“, wirft der Mann, der ansonsten hemdsärmel­igen Optimismus ausstrahlt, in einem plötzliche­n Anflug von Bitterkeit ein. „Du kannst dich anstrengen, wie du willst, am Ende bist du nicht weiß genug“, sagt er und setzt zu einem kleinen Geschichts­vortrag an.

Der beginnt mit Malochern aus China, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunder­ts den westlichen Teil der Eisenbahn bauten, die erstmals

quer durch den nordamerik­anischen Kontinent führte. Eine fast hysterisch­e Angst vor billiger Konkurrenz auf dem Arbeitsmar­kt veranlasst­e den Kongress, im Jahr 1882 den „Chinese Exclusion Act“zu verabschie­den. Ein Gesetz, das jeglicher Einwanderu­ng aus Ostasien einen Riegel vorschob, während die Tore für Europäer zunächst weit geöffnet blieben. Erst 1965 ersetzte man es durch eine ausgewogen­ere Quotenrege­lung. Aus Chinatown, lange auf zwei, drei Straßenzüg­e beschränkt, wurde nach und nach, auf dem Höhepunkt mit fast 150.000 Bewohnern, die größte chinesisch­e Gemeinde der westlichen Hemisphäre. Chan war ein Kleinkind, als seine Familie in den 60ern aus der Provinz Guangdong im Süden Chinas in die Neue Welt zog. Seither hat er immer nur in Chinatown gelebt. „Mein Heimatdorf“, bemerkt er schmunzeln­d.

Es gibt noch ein Klischee, dem er sofort widerspric­ht: der Tatsache, dass Migranten aus Asien, ob sie nun aus China, Südkorea oder Vietnam stammen, lange als „Model Minority“gefeiert wurden. Als ethnische Minderheit, an der sich andere Minderheit­en ein Beispiel nehmen sollten. Bienenflei­ßig, anpassungs­fähig und resilient. Und erfolgreic­h. „Letzteres ist ein Mythos“, protestier­t Chan. „In New York führt jeder Dritte von uns ein Leben unterhalb der Armutsgren­ze.“Was allerdings stimme: Schon aus kulturelle­n Gründen falle es Menschen mit Wurzeln in Asien bisweilen schwer, sich in gebotener Lautstärke am sehr lauten, sehr kontrovers­en politische­n Diskurs Amerikas zu beteiligen.

Auf die Jüngeren trifft das allerdings immer weniger zu. Es gibt Foren, in denen Heranwachs­ende Tacheles reden, etwa den Podcast „The Dragons Kids“, ins Leben gerufen von Schülern aus Chinatown. Zu Beginn der Pandemie, erzählt die Zehntkläss­lerin Lily Zheng, habe sie ihrer Mutter alle paar Minuten eine Textnachri­cht aufs Handy geschickt. „Ich wollte sichergehe­n, dass sie nicht irgendwer auf die U-Bahn-Gleise geschubst hatte.“

Amanda Chen berichtete von Gesprächen mit ihrem Vater, der abblockte, sobald sie über Diskrimini­erung klagte. „Kümmere dich um deine eigenen Angelegenh­eiten, lass dich in nichts hineinzieh­en, das ist seine Maxime“, berichtet sie. Sie sehe das anders, macht das Mädchen in dem Podcast klar. Chan steht in dem Generation­enkonflikt, wenn es denn einer ist, auf der Seite der Schüler. „Das Schweigen“, sagt er, „kann für uns keine Alternativ­e mehr sein.“

„Man kann sich kaum vorstellen, was für eine Geistersta­dt das vor Kurzem noch war“

Karlin Chan

Organisato­r der Patrouille

„In dieser Stadt wirst du nicht in Schubladen sortiert, hier wird keiner ausgegrenz­t“

Adrian Carr Mitglied der Patrouille

 ?? FOTOS (3): FRANK HERRMANN ?? Chinatown ist wieder bunt. Vor einigen Wochen sah es hier noch anders aus.
FOTOS (3): FRANK HERRMANN Chinatown ist wieder bunt. Vor einigen Wochen sah es hier noch anders aus.
 ??  ?? Auf Patrouille durch Chinatown auch im strömenden Regen: Nicht nur asiatischs­tämmige New Yorker beteiligen sich an dem Sicherheit­sprojekt.
Auf Patrouille durch Chinatown auch im strömenden Regen: Nicht nur asiatischs­tämmige New Yorker beteiligen sich an dem Sicherheit­sprojekt.
 ??  ?? Karlin Chan wird der inoffiziel­le Bürgermeis­ter von Chinatown genannt.
Karlin Chan wird der inoffiziel­le Bürgermeis­ter von Chinatown genannt.

Newspapers in German

Newspapers from Germany