Rheinische Post - Geldern an Kevelaer
Der Unvollendete
Der Dortmunder Kapitän Marco Reus kann im Endspurt der Saison vor allem in den Spielen gegen Leipzig auch seine eigene Bilanz aufpolieren. Viele Verletzungen haben in seiner Laufbahn die ganz großen Erfolge verhindert.
DORTMUND Marco Reus ist fast 32 Jahre alt. Seit 2009 spielt er in der Bundesliga, 308 Begegnungen hat er dabei bestritten und 132 Tore erzielt. Er war Fußballer des Jahres und Spieler der Saison. Gegen RB Leipzig kann er nächste Woche zum zweiten Mal den DFB-Pokal gewinnen, und gegen denselben Gegner kann er am Samstag (15.30 Uhr) etwas dafür tun, dass Borussia Dortmund vielleicht doch noch in die Champions League kommt.
Andere würden sich mit so einer Bilanz im offenen Wagen herumfahren und von den Fans auf der langsam sichtbaren Zielgeraden der Karriere feiern lassen. Nicht so der Kapitän des BVB. Er gilt als ein Unvollendeter, als einer, dessen ungeheure Begabung zu wesentlich mehr Tafelsilber hätte reichen müssen und der immer wieder vor den ganz großen Zielen scheitert.
Am Können liegt es nicht. Reus kann das Publikum verzaubern mit seiner Leichtigkeit, mit einer schwerelosen Ballbehandlung, wie sie nur die ganz Großen an den Tag legen, und einer großartigen Schusstechnik. Zuletzt hat er das im DFB-Pokalhalbfinale gegen Holstein Kiel (5:0) mal wieder gezeigt. Es war viel Zauber im Spiel. Echte Reus-Momente wie jene, die sein früherer Trainer Thomas Tuchel so atemlos bestaunte. „Es ist eine Freude, ihn zu sehen“, sagte der Coach. Er war nicht der Einzige, der das sagte.
Diese Freude macht Reus den Fußballfreunden viel zu selten. Denn der Körper spielt oft einfach nicht mit. Es gab Jahre, da hatte er mehr Ausfallzeiten als Spielminuten. 283 Fehltage durch Verletzungen rechneten die Statistiker zum Beispiel für den Zeitraum vom Frühjahr 2016 bis Frühjahr 2018 zusammen. Und in bester Buchhaltermanier zählten sie auf: Muskelfaserriss, Oberschenkelprellung, Muskelbeschwerden, Fersenverletzung, grippaler Infekt, allgemeine Schwäche, Schambeinverletzung, Kreuzbandriss.
Das reicht eigentlich für ein ganzes Leben.
Und es war nicht der erste heftige Rückschlag. Viel tiefer muss es ihn getroffen haben, als er sich im letzten Testspiel vor der Weltmeisterschaft 2014 in Mainz gegen Armenien so schwer verletzte, dass er die Reise nach Brasilien gar nicht erst antreten konnte. Dabei war er in Bestform. Es wird ihn kaum getröstet haben, dass seine Kollegen nach dem Titelgewinn sein Trikot in die Kameras hielten. Er war eben nur Zuschauer. Wie so häufig. Bis auf die verheerend kurze WM in Russland 2018 und die Europameisterschaft 2012 hat Reus alle wichtigen Turniere seiner Laufbahn verpasst.
Das ist nicht nur für ihn bitter. Der DFB-Trainerassistent Marcus Sorg stellte für viele Experten fest:
„Marco Reus ist ein Spieler, bei dem man automatisch den Unterschied sieht, wenn er gesund und spielfreudig ist.“Ja, wenn. Weil er es zu oft nicht war, betreibt Bundestrainer Joachim Löw seinen Neuaufbau, der unmittelbar in die EM in sechs Wochen mündet, ohne den Dortmunder Kapitän. So mancher hofft, dass Reus in der Form des Pokal-Halbfinals oder der zurückliegenden vier Bundesliga-Erfolge noch auf den EM-Zug aufspringt. Am meisten er selbst. In diesem Fall könnte er die für einen Spieler seiner Klasse lächerliche Länderspielbilanz (44 Spiele) noch ein bisschen aufhübschen.
Die Schlussphase der Saison bietet ihm die Gelegenheit, Werbung in eigener Sache zu betreiben. Danach hat es lange nicht ausgesehen. Obwohl er in der nun bald endenden Bundesliga-Spielzeit fast immer spielte, war er viel zu oft vergeblich auf der Suche nach sich selbst. Die Leichtigkeit, die sein Spiel so auszeichnet, verschwand unter dem Druck der Verantwortung, die auch die Kapitänsbinde auferlegt. Und die brummige Körpersprache bei häufigen Auswechslungen war ein weiterer Beweis für eine tiefe Krise. Sebastian Kehl, der Leiter der BVB-Lizenzspielerabteilung, meinte auch den Kapitän, als er erklärte: „Wir hatten Formschwankungen.“Das ist noch sehr vornehm ausgedrückt.
Irgendwann im zurückliegenden Monat muss Trainer Edin Terzic allerdings wohl doch den richtigen Schalter gefunden haben. Die Mannschaft hat sich radikal verändert in ihrem Auftreten und in ihrer Entschlossenheit. Das sieht man auch Reus an.
Deshalb will Kehl die Saisonziele nicht korrigieren. „Am liebsten Pokalsieger und Champions-League-Teilnehmer“wäre er. Das setzt weitere Erfolge voraus, vor allem gegen Leipzig. „Es werden spannende Dortmunder Wochen“, urteilte Leipzigs Trainer Julian Nagelsmann vor den Duellen in Liga und Pokal. Er will sich natürlich auch sehr gern mit einem Titel zu den Bayern verabschieden.
Wenn Kehl ganz ehrlich ist, dann ist ihm die Champions League noch lieber als ein weiterer Eintrag auf dem Briefkopf. „Die Champions League ist der wichtigste Wettbewerb für uns“, bekannte der Funktionär vergangenen Sonntag. Schließlich wird in der Meisterklasse das große Geld verdient, das der große BVB für seine weiterhin großen Ziele benötigt. Reus kann dabei helfen und seine eigene Statistik aufpolieren. Mit jedem Erfolg wäre er ein kleines Stückchen weniger unvollendet.