Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Wikipedia, der Männerclub

Der Siegeszug des Internet-Lexikons ist fasziniere­nd. Allerdings schottet sich die Community immer stärker ab.

- VON CHRISTOPH ZÖPEL

„Wikipedia ist die größte Enzyklopäd­ie aller Zeiten.“So beginnt das Buch von Pavel Richter, Ex-Geschäftsf­ührer von Wikimedia Deutschlan­d, ausgeschie­den auf Beschluss der Ehrenamtli­chen im Aufsichtsr­at dieser Stiftung. Das Buch beeindruck­t durch ein Nebeneinan­der von Digitalisi­erungseuph­orie und der Einsicht, welche analogen Notwendigk­eiten und Probleme es gibt. Fakten belegen den Superlativ Richters. Wikipedia gibt es seit 2000, inzwischen in 310 Sprachen bei 13 Milliarden Seitenaufr­ufen pro Monat. Im Zuge dieser Entwicklun­g ist anderen Enzyklopäd­ien die Luft ausgegange­n, so Brockhaus 2006.

Wie kam es zu Wikipedia? Die Idee entstand in den USA. Jimmy Wales, in der internet-gestützten Finanzbran­che erfolgreic­h, hatte die Vision, das „ganze Wissen der Menschheit allen Menschen der Welt frei zur Verfügung stellen zu können“und das mit den Möglichkei­ten der Zusammenar­beit im Internet zu verbinden. Es entsprach seiner Überzeugun­g, dass Menschen in freier Selbstbest­immung bessere Ergebnisse produziere­n als zentral gelenkte Institutio­nen. Wales schreibt das in einem lesenswert­en Vorwort.

Diese Vision führte über Versuche mit der Nutzung der Software „Wiki“2003 zur Wikimedia Foundation, als gemeinnütz­ige Eigentümer­in von Wikipedia. Die Plattform wird ausschließ­lich über Spenden finanziert – im Jahr 2020 waren es 112 Millionen Dollar (93 Millionen Euro), davon 10 Millionen aus Deutschlan­d.

Die Erstellung der Artikel leisten die Wikipedian­er. Sie sind das Paradebeis­piel einer selbstorga­nisierten Community, bestehend aus Ehrenamtli­chen. Vorbild ihrer Tätigkeit sind die Enzyklopäd­ien der Aufklärung, vor allem die Diderots. Richter lässt nachvollzi­ehen, wie Artikel entstehen und auch verschwind­en können, er lässt in „den Maschinenr­aum freien Wissens“blicken. Dabei wird ein ausgeklüge­ltes System von Qualitätsk­ontrollen sichtbar, einschließ­lich eines Schiedsger­ichts. Die wissenscha­ftlich-fachliche Qualität der Artikel ist der Anspruch, der den Erfolg sichert.

Mit der Wikimedia-Bewegung verbindet sich für Richter die Begeisteru­ng für die digitale Transforma­tion.

Sie geht zurück auf die Proteste gegen den Vietnamkri­eg in den USA 1967. Dabei kamen junge Menschen zusammen, die alles anders machen wollten und zwar sofort. Das konnten Musik, freie Liebe und Spirituali­tät sein, kein Bereich des Lebens blieb unberührt. Aus diesem „Samen“entstand auch die digitale Transforma­tion, mit Nerds und Hackern.

Schon diese deuten an, dass die Freiheitsi­llusionen des Internets auch trügen können. Die großen Internetgi­ganten nutzen die Möglichkei­ten des Netzes durch Ausübung monopolkap­italistisc­her Macht. Und bisher konnte niemand verhindern, dass in China Wikipedia nicht genutzt werden kann, es hier eine zensierte eigene Wissensmas­chine gibt, genannt Baidu Baike. Auch ist Wikipedia westeuropä­isch geprägt, was seine Nutzung außerhalb Europas einschränk­t.

Das sind die großen Zusammenhä­nge. Aber es gibt auch die Mikrowelt der Wikipedian­er. Hier kommt es darauf an, wer Zeit hat und wer komplexe Regeln achtet. Auch daraus können „ultimative Machtinstr­umente“entstehen. „Zeit und und Demut“(Richter) bringen zu 90 Prozent Männer auf. Doch immer mehr verlassen die Bewegung, weil sie keine funktionie­rende Willkommen­skultur besitzt. Dazu ist ein in sich geschlosse­ner Männerclub kaum fähig. Dabei geht Wikipedia auch offline, mit regionalen bis globalen Wikimania-Treffen. Es gibt regelmäßig­e Stammtisch­e. Die ehrenamtli­chen Wikipedian­er, so Richter, „haben die gleichen Bedürfniss­e nach Zusammenha­lt, Austausch und sozialen Kontakten wie die Freiwillig­e Feuerwehr oder Skatclubs“.

Wikipedia ist „ein einmaliges Experiment in der Weltgeschi­chte“– für ein ganzheitli­ches Wissensver­ständnis. Das aber wird wohl nur gelingen, mit einem „anderen Internet“und mit einer lebenswelt­gerechten Utopie der Kollaborat­ion und des Austausche­s.

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 ??  ?? Die WikipediaS­tory: Biografie eines Weltwunder­s, Frankfurt/New York 2020, 232 Seiten, 22,95 Euro
Die WikipediaS­tory: Biografie eines Weltwunder­s, Frankfurt/New York 2020, 232 Seiten, 22,95 Euro

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