Rheinische Post - Geldern an Kevelaer
„Jetzt ist die Zeit für die nächste Generation“
Der Bundesgesundheitsminister sieht gute Gründe für mehr Zuversicht: beim Kampf gegen Corona wie beim Kampf seiner CDU mit dem Umfragetief. Gegen die Grünen- und die SPD-Spitze teilt er kräftig aus. Dabei hat er selbst noch einige offene Baustellen.
Herr Spahn, am Sonntag treten Lockerungen für Geimpfte und Genesene in Kraft. Richtig so?
SPAHN Ja, aber das sind keine Lockerungen, es geht um Grundrechte. Die haben wir in den letzten 14 Monaten so eingeschränkt wie nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. Der Schritt morgen ist nur folgerichtig. Gerade auch, weil die Impfung nicht nur vor einer Covid-19-Erkrankung schützt, sondern zu einem sehr hohen Grad auch weitere Infektionen vermeidet.
Befürchten Sie eine zunehmende Neid-Debatte?
SPAHN Dabei hilft uns die Impfpriorisierung. Wir haben bewusst jene Menschen zuerst geimpft, die am stärksten betroffen waren. Wenn nun Pflegeheimbewohner, die eine harte Zeit der Isolation hinter sich haben, als Erste mehr Kontakte haben können, ist das ein Grund zur Freude. Das können und sollten wir alle mittragen. Aber ja, wir werden für einige Wochen eine Spannung in der Gesellschaft erleben, die auch quer durch Familien und Betriebe verläuft, wenn manche geimpft sind, andere noch nicht. Aber das werden wir gemeinsam aushalten.
Ohne Impfstoff für Kinder müssen Familien sich weiter beschränken. Was sagen Sie ihnen?
SPAHN Mir ist sehr wohl bewusst, was die Pandemie Kindern und Jugendlichen abverlangt. Diese Zeit prägt gerade junge Menschen stark. Ihnen fehlt Bewegung, die Zeit mit ihren Freunden in Kita und Schule. Wir werden die dritte Welle aber nicht alleine durch das Impfen brechen. Wir müssen die Inzidenzen senken. Die aktuelle Entwicklung ist ermutigend. Das Ziel muss ja sein, dass Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen für alle aufgehoben werden können.
Beim Öffnen ist kein bundeseinheitlicher Plan in Sicht. Droht ein neuer Flickenteppich?
SPAHN Der Beschluss der Ministerpräsidentenkonferenz von Anfang März gilt weiterhin. Darin sind auch Öffnungsschritte für Inzidenzen unter 100 festgelegt. Doch es bleibt wichtig, dass wir Zuversicht und die Aussicht auf einen guten Sommer mit Vorsicht und Umsicht verknüpfen. Wer zu schnell öffnet, verstolpert den bisherigen Erfolg. Deswegen sollten wir – wenn es die Lage vor Ort zulässt – beim Öffnen zunächst draußen anfangen: Außengastronomie, Veranstaltungen unter freiem Himmel, Zoos oder Sportveranstaltungen mit reduzierter Besucherzahl – natürlich immer mit Abstand und Hygiene. Der Negativ-Test oder Impfnachweis muss die Voraussetzung bleiben. Ganz wichtig: Getestete, Genesene und Geimpfte sind hier gleichgestellt und haben die gleichen Zugänge.
Können Sie eine klare Perspektive für den Sommerurlaub geben? SPAHN Ich selbst plane meinen Urlaub in Deutschland. In dieser hoffentlich letzten Phase der Pandemie würde ich keine großen Fernreisen planen, Nordsee statt Südsee quasi. Innerhalb der EU wird das Reisen voraussichtlich nicht von der Impfung abhängig sein. Auch mit den Testungen wird man sich europaweit gut bewegen können.
Es gibt viel Frust über das Krisenmanagement. Was macht das mit dem Vertrauen in den Staat?
SPAHN Das Vertrauen ist derzeit geschwächt, daran gibt es nichts schönzureden. So wie es zu Beginn einen Krisenbonus für die Regierungsparteien gab, gibt es jetzt einen Krisenmalus. Dabei gibt es gute Gründe für mehr Zuversicht: Wir kommen deutlich voran bei der Genomsequenzierung, beim Impfen, bei der Digitalisierung und Vernetzung der Gesundheitsämter, bei den Updates der Corona-Warn-App, beim Testen. Ja, es gab Versäumnisse. Aber wir haben in den letzten 14 Monaten viel erreicht. Das sollten wir uns als Gesellschaft häufiger vor Augen führen.
Arbeitsminister Heil hat eigene Vorschläge für die Tariflöhne in der Pflege. Warum so unabgestimmt? SPAHN Ich finde es schade, dass vier Monate vor der Wahl die gute Zusammenarbeit bei der konzertierten Aktion Pflege von Arbeits-, Familien- und Gesundheitsministerium durch ein parteipolitisches Manöver infrage gestellt wird. Ein gemeinsames Vorgehen wäre besser gewesen. Immerhin, das Thema Pflege steht nun wieder oben auf der
Agenda. Wenn wir das Klimagesetz in nur zwei Wochen verabschieden, können wir auch die Verbesserungen für die Pflege noch in dieser Legislatur auf den Weg bringen.
Ihre Pflegereform umfasst mehrere Milliarden jährlich, dafür brauchen Sie Finanzminister Scholz. SPAHN Wir wollen Pflegekräfte besser bezahlen, Pflegebedürftige dabei aber nicht überlasten. Ja, dafür braucht es einen Bundeszuschuss. Derzeit befinden wir uns in der Ressortabstimmung. Der Finanzminister muss sich nun dazu verhalten. Ist er ein Vizekanzler, der noch regiert, oder Kanzlerkandidat im reinen Wahlkampfmodus? Mir wäre es lieber, das Problem mit ihm zu lösen und Pflegekräften wie Angehörigen konkrete Perspektiven aufzuzeigen.
Apropos Geld: Wie optimistisch sind Sie, dass der Rekordsteuerzuschuss von 12,5 Milliarden Euro mit Olaf Scholz zu machen ist? SPAHN Um gut aus der Krise zu kommen, haben wir in dieser Koalition die Garantie gegeben, dass die Sozialversicherungsbeiträge nicht über 40 Prozent steigen. Das gelingt für 2022 nur dann, wenn es einen milliardenschweren Bundeszuschuss für die Krankenkassen gibt. Der Finanzminister hat die Sozialgarantie mit mir gemeinsam im Kabinett beschlossen. Ankündigungen zu machen, ohne sie einzuhalten zu müssen, kann man machen, wenn man Baerbock oder Habeck heißt und in der Opposition ist. Wer Scholz heißt und Finanzminister ist, muss seine Beschlüsse auch umsetzen.
Die Sozialgarantie gilt bis 2022.
Wie sieht es langfristig aus?
SPAHN Das ist eines der drei großen Themen für die 2020er-Jahre, die wir auch aus dieser Pandemie mitnehmen. Eine grundlegende Lehre aus der Pandemie ist doch, dass wir einen Staat brauchen, der seine Bürger schützt und ihnen die bestmögliche Entfaltung ihrer Talente erlaubt. Bei den Sozialabgaben plädiere ich daher für eine stärkere Finanzierung über Steuern als über Beiträge – das entlastet Geringverdiener und ist eine Frage der sozialen Gerechtigkeit. Staatlich geförderte Innovation ist das zweite große Zukunftsthema, wir sollten eine starke, in die Welt strahlende Bundesuniversität aufbauen, sie etwa aus der Berliner Charité heraus entwickeln. Notfalls über eine Verfassungsänderung. Zum dritten müssen wir die großen Handelsfragen und die viel zu starke Abhängigkeit von China anpacken. Wir brauchen eine stärkere Diversifikation unserer Handelsbeziehungen als EU.
Seit Armin Laschets Aufstellung stürzt die Union in den Umfragen ab. Ist die CDU gerettet, aber der Wahlerfolg gefährdet?
SPAHN Nein, wir fangen doch gerade erst richtig an.
Die Briefwahl startet Mitte August, da ist es nicht mehr lange hin… SPAHN Die Erfahrungen der Pandemie lehren ja, dass in kurzer Zeit sehr viel möglich ist. Es waren schwierige Wochen für die Union, den Prozess sollten wir nicht schönreden. Jetzt müssen wir nach vorne schauen. Mit Armin Laschet an der Spitze in einem Team, das den Anspruch ausstrahlt, die 20er-Jahre zu gestalten, mit neuen Gesichtern verknüpft.
Armin Laschet hat bisher nur Friedrich Merz explizit erwähnt. SPAHN Wir stellen die jüngsten Ministerpräsidenten Deutschlands, wir haben in der Bundestagsfraktion viele gute junge Köpfe, auch bereits bekannte wie Carsten Linnemann, Silvia Breher und Paul Ziemiak. Außerdem treten gute neue Leute für uns an, etwa Joe Chialo in Berlin-Spandau, Serap Güler in Köln, Tilman Kuban in Niedersachsen. Mit dem Regierungsende von Angela Merkel wird es viele neue Gesichter geben. Jetzt ist die Zeit für die nächste Generation, die Generation Kohl geht in Rente. Außerdem haben wir dieses Land gut durch die Pandemie geführt und führen es mit dem Impfen heraus. Deutschland ist beim Elfmeterschießen gut, das zeigt sich auch beim Impfen. Zudem brauchen die 20er-Jahre ein Narrativ: notwendigen Wandel aktiv gestalten und mit Sicherheit verbinden – diese Sicherheit ist es, die Menschen mit uns verbindet.