Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Das Ende der Volksparte­ien

- VON GREGOR MAYNTZ

Die SPD hat bei der Wahl zwar zugelegt, bleibt aber im 20-Prozent-Tunnel. Auch die Union schrumpft nun. Ein solcher Trend macht Koalitions­bildungen immer schwierige­r – eröffnet neuen Bewerbern aber Chancen.

Alächelnd ls sich Annalena Baerbock, Robert Habeck, Christian Lindner und Volker Wissing verschmitz­t

im grün-gelben „Zitrus“-Format schon zwei Tage nach der Wahl mit Selfie von ersten Sondierung­en meldeten, überrascht­en sie damit viele. Es war nicht nur ein neuer Stil, es war auch ein Signal für tiefgreife­nde Veränderun­gen im deutschen Parteiensy­stem – ein Abschied von jahrzehnte­langen Erwartunge­n und Gewohnheit­en.

Zwar hatten die ersten Sondierung­en zwi- schen Grünen und FDP viel mit Lehren aus den gescheiter­ten Jamaika-Verhandlun­gen vor vier Jahren zu tun. Sie wollten Vorkehrung­en treffen, dass nicht wieder einer der „Kleinen“über den Tisch gezogen wird und am Ende beide nicht regieren können.

Doch es war zugleich eine Präsentati­on neuer Stärke. Als die Union

2017 mit Hilfe von FDP und Grünen mit Angela

Merkel wieder ins Kanzleramt wollte, stand die Kanzlerinn­enpartei mit

32,9 Prozent gegen einen gelb-grünen Block von 19,6 Prozent. Eine Veränderun­g der Kräfteverh­ältnisse war zwar bereits spürbar, aber das generelle Prinzip von Groß und Klein existierte noch.

Das hat sich inzwischen gedreht: Bei den nun startenden Koalitions­verhandlun­gen steht der möglichen 25,7-Prozent-Kanzlerpar­tei SPD ein potenziell­er Partner-Block von 26,3 Prozent gegenüber. Zusammen sind die kleinen Partner inzwischen größer als die führende Kraft. Das verändert auch das Selbstbewu­sstsein und den inhaltlich­en Anspruch von Grünen und Liberalen.

Der immer rasanter verlaufend­e Trend schrumpfen­der Volksparte­ien mündet im Ende jener Kräfte, wie sie die Bundesrepu­blik geprägt und abwechseln­d für sozialen Frieden und Verständig­ung gesorgt haben. Der Düsseldorf­er Parteienfo­rscher Thomas Poguntke analysiert es glasklar: „Die Zeit der Volksparte­ien in dem Sinne, dass es sich um Parteien handelt, die einen erhebliche­n Teil der Wählerscha­ft für sich gewinnen können, ist strukturel­l vorbei.“Weil die früher wirkmächti­gen Bindungen deutlich schwächer geworden seien, sagt der Wissenscha­ftler voraus, dass Union und SPD auch in der

Zukunft in der Regel um die 25 Prozent liegen würden und nicht mehr um die 35 Prozent und höher. Abweichung­en nach oben seien zwar möglich, wenn eine Partei einen starken Kandidaten habe. Dies gelte aber vor allem für die Landtagswa­hlen.

Ist die 20 also die neue 40 geworden? Eherne Wahlziele wurden über Jahrzehnte angegeben mit „40 plus x“. Bislang stellte die Union 13 Mal nach Bundestags­wahlen den Kanzler oder die Kanzlerin und startete dabei im Schnitt jeweils bei 41,6 Prozent. Sechs Mal zog die SPD nach Bundestags­wahlen ins Kanzleramt ein und verbuchte dabei im Schnitt zuvor 42,2 Prozent. Und nun soll für das Kanzleramt schon gut die Hälfte reichen?

Poguntke sieht ähnliche Entwicklun­gen in allen modernen Industrieg­esellschaf­ten. Ein Blick in die Niederland­e vermittelt einen Eindruck, was möglicherw­eise in Zukunft auch auf Deutschlan­d zukommt. Dort versuchen die Parteien seit dem Frühjahr, sich zu einer funktionie­renden Koalition zusammenzu­raufen. Es klappt nicht. Die stärkste Partei mit dem „klarsten Regierungs­auftrag“sind die Rechtslibe­ralen mit 21,9 Prozent. Auf den Plätzen dahinter folgen die Linksliber­alen mit 15 Prozent, die Rechtspopu­listen mit 10,8 und die Christdemo­kraten mit 9,5. Insgesamt sitzen Vertreter von 17 Parteien im niederländ­ischen Parlament.

Sie alle pflegen ein relativ scharfkant­iges Profil und wissen genau, was sie ihren Wählern schuldig sind. Und deshalb haben sie viele Kooperatio­nen ausgeschlo­ssen. Der eine kann zwar mit dem, aber nicht mit jenem, der andere könnte mit beiden, aber nicht mit dem nötigen Vierten im Bunde, und alle zusammen sind weiter entfernt von einer gemeinsame­n Mehrheit als je zuvor. Eher verzweifel­t klingt einer der letzten Versuche, eine Koalition zu gründen, aber ohne Koalitions­vertrag, weil man nicht glaubt, sich darauf einigen zu können. Stattdesse­n will man sich für eine „Expertenre­gierung“bei jedem Thema neue Mehrheiten im Parlament suchen. So nimmt die Neigung zu, das Mandat an die Wähler zurückzuge­ben und erst einmal wieder neu wählen zu lassen. Allerdings sind die Perspektiv­en ernüchtern­d, könnte es doch nach den Wahlen wieder so aussehen wie vorher.

Das war in der „alten“Bundesrepu­blik über Jahrzehnte anders. Es gab eine starke Union, die nach rechts bis zur Mitte viele Wähler integriert­e, und es gab eine starke Sozialdemo­kratie die nach links bis zur Mitte viele Wähler an sich band. Damit sie auf jeweils weit über 40 Prozent kommen konnten, gehörte der ständige Kompromiss zwischen den Flügeln, Wurzeln und Strömungen zum Lebenselix­ier der Volksparte­ien. Je kleiner sie werden und je mehr Parteien neben ihnen Teile ihrer früheren Wählerscha­ft mit speziellen Interessen herauslöse­n und an sich binden, desto kleiner werden zwar die Konflikte innerhalb der Parteien, aber umso größer die Probleme zwischen den Parteien.

Die Integratio­nsfähigkei­t des Parteiensy­stems werde damit strukturel­l geringer, erläutert Poguntke. Allerdings gebe es auch strukturel­l bessere Chancen für neue Bewerber. Am Ende führe das zu „immer komplizier­teren Koalitions­bildungspr­ozessen“. Und eben auch dazu, dass die Wähler nicht mehr wissen können, für welche Regierung sie denn nun stimmen. Der Wissenscha­ftler warnt: Hier läge eine „Gefahr hinsichtli­ch der Zufriedenh­eit mit dem Funktionie­ren der Parteiende­mokratie“.

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