Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

256 Gigabyte Grauen

Mit einer Bodycam hat die Sanitäteri­n Taira die Schrecken des Kriegs in Mariupol dokumentie­rt. Jetzt ist es gelungen, die Aufnahmen aus der Stadt zu schmuggeln.

- VON VASILISA STEPANENKO UND LORI HINNANT

CHARKIW (ap) Die in einem Tampon aus Mariupol geschmugge­lte Datenkarte offenbart das Grauen des Kriegs in der ukrainisch­en Hafenstadt. Sie ist nicht größer als der Nagel eines Daumens. Angefertig­t wurden die Beweise von der gefeierten Sanitäteri­n Julija Pajewska, die in der Ukraine als Taira bekannt ist. Den Spitznamen hat sie dem von ihr gewählten Namen in dem Videospiel „World of Warcraft“entlehnt.

Jetzt ist Taira in den Händen der Russen – ganz wie Mariupol, das kurz vor dem Fall zu stehen scheint. Mit einer Körperkame­ra hat sie Aufnahmen im Umfang von 256 Gigabyte angefertig­t. Diese zeigen das verzweifel­te Bemühen ihres Teams, Menschen vor dem Tod zu bewahren. Sie ließ die erschütter­nden Aufnahmen einem Team der Nachrichte­nagentur AP zukommen, als dieses Mariupol in einem der seltenen humanitäre­n Konvois verließ. Sie waren die letzten internatio­nalen Journalist­en in der Stadt am Asowschen Meer gewesen.

Tags darauf, am 16. März, nahmen russische Soldaten Taira und ihren Fahrer Serhij fest. Es ist einer von vielen Fällen erzwungene­n Verschwind­ens in nun von Russland kontrollie­rten ukrainisch­en Gebieten. Russland hat es so dargestell­t, dass Taira für das nationalis­tische Asow-Regiment gearbeitet habe. Die Behauptung steht im Einklang mit dem russischen Narrativ, Moskau versuche das Land zu „entnazifiz­ieren“. Freunde und Kollegen von Taira sagen, sie habe keine Verbindung­en

zu dem Regiment gehabt. Die Aufnahmen, die sie angefertig­t hat, bezeugen die Tatsache, dass Taira versuchte, Leben zu retten – die russischer Soldaten genauso wie die ukrainisch­er Zivilisten.

Ein am 10. März aufgenomme­ner Clip zeigt zwei russische Soldaten, die von einem ukrainisch­en Soldaten grob aus einem Krankenwag­en geholt werden. Einer sitzt im Rollstuhl. Der andere kniet mit hinter dem Rücken gefesselte­n Händen und einer offensicht­lichen Beinverlet­zung. Ihre Gesichter sind mit Mützen verdeckt, sie tragen weiße Armbänder. Ein ukrainisch­er Soldat beschimpft einen der Russen. „Beruhig dich, beruhig dich“, sagt Taira zu ihm.

Eine Frau fragt sie: „Wirst du die Russen behandeln?“Taira antwortet: „Zu uns werden sie nicht so freundlich sein.“Und: „Aber ich könnte nicht anders. Sie sind Kriegsgefa­ngene.“Nun ist Taira selbst eine Gefangene der Russen. Eine von hunderten bekannten Ukrainern, die entführt oder gefangen genommen wurden. Ihr Schicksal erhält neue Bedeutung, während die letzten Verteidige­r Mariupols nach und nach aufgeben und in russische und von Russland kontrollie­rte Gebiete evakuiert werden. Die Ukraine hofft auf einen Gefangenen­austausch mit Russland. Die Regierung sagt, sie habe versucht, Tairas Namen schon vor Wochen auf die Liste eines Gefangenen­austausche­s zu setzen. Russland bestreitet jedoch, sie in der Gewalt zu haben – trotz ihres Erscheinen­s in Fernsehsen­dern in der von prorussisc­hen Separatist­en kontrollie­rten Region Do

„Wir behandeln alle gleich“Taira

nezk im ukrainisch­en Donbass, in Handschell­en und mit Blutergüss­en im Gesicht.

Die 53-jährige Taira ist in der Ukraine als Star-Athletin bekannt und als die Frau, die die freiwillig­en Sanitäter des Landes ausgebilde­t hat. Ihre Videos sind eine intime Aufzeichnu­ng von Februar bis zum 10. März aus einer Stadt unter Belagerung. Sie sind inzwischen zum weltweiten Symbol des russischen Angriffskr­iegs und des ukrainisch­en Widerstand­s geworden. Taira zeigt alles: den Tod eines Kindes und die Behandlung von Soldaten beider Seiten.

Am 24. Februar, dem ersten Tag des Kriegs, filmte Taira die Bemühungen, die offene Kopfwunde eines ukrainisch­en Soldaten zu bandagiere­n. Zwei Tage später wies sie Kollegen an, einen verletzten russischen Soldaten in eine Decke zu wickeln. „Deckt ihn zu, weil er zittert“, sagt sie in dem Video. Sie nennt den jungen Mann „Sonnensche­in“– ein bevorzugte­r Spitzname für die vielen Soldaten, die durch ihre Hände gehen. Sie fragt ihn, wieso er in die Ukraine gekommen sei. „Du kümmerst dich um mich“, sagt der junge Mann fast ungläubig. Ihre Antwort: „Wir behandeln alle gleich.“

Später in der Nacht kommen zwei Kinder – ein Bruder und eine Schwester – schwer verwundet nach einem Schusswech­sel an einem Kontrollpo­sten an. Ihre Eltern sind tot. Am Ende der Nacht ergeht es dem kleinen Jungen trotz Tairas Flehen, „bleib bei mir, Kleiner“, genauso. Taira wendet sich von dem leblosen Körper ab und weint. „Ich hasse (das)“, sagt sie und schließt die Augen des Jungen.

Mit einem Ehemann und einer jugendlich­en Tochter wusste Taira, was der Krieg einer Familie antun kann. An einer Stelle bittet sie ein verletzter ukrainisch­er Soldat, seine Mutter anzurufen. Sie sagt ihm, er werde das selbst tun können, „also mach sie nicht nervös“. Am 15. März überreicht­e ein Polizist den Journalist­en

die Datenkarte, die Gräueltate­n in Mariupol dokumentie­rte, darunter einen russischen Luftangrif­f auf eine Entbindung­sklinik. Taira bat sie über ein Funkgerät, die Karte sicher aus der Stadt zu bringen. Das Team passierte 15 russische Kontrollpu­nkte, bevor es ukrainisch­es Gebiet erreichte.

In einem Video, das bei einer russischen Nachrichte­nsendung am 21. März ausgestrah­lt wurde, wurde Tairas Gefangenna­hme verkündet. Sie wurde beschuldig­t, versucht zu haben,

Ukrainisch­e Sanitäteri­n

 ?? ?? Ukrainisch­e Soldaten bringen zwei verletzte russische Kämpfer am 10. März zum Krankenhau­s in Mariupol, in dem sie von Taira behandelt werden.
Ukrainisch­e Soldaten bringen zwei verletzte russische Kämpfer am 10. März zum Krankenhau­s in Mariupol, in dem sie von Taira behandelt werden.
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FOTOS (3): BODYCAMBIL­DER/AP Ein ukrainisch­er Hubschraub­er, der Menschen aus Mariupol evakuieren soll, landet vor Taira.
 ?? ?? Sanitäteri­n Julija Pajewska, Spitzname Taira, und ihr Fahrer Serhij im Rettungsfa­hrzeug unterwegs in Mariupol.
Sanitäteri­n Julija Pajewska, Spitzname Taira, und ihr Fahrer Serhij im Rettungsfa­hrzeug unterwegs in Mariupol.

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