Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Wie Deutschlan­d wieder Erfolg haben könnte

INFO Unregelmäß­igkeiten bei Jury-Wertung

- VON MARC LATSCH

Die Hoffnung von Malik Harris endet in Turin in der Nacht zum Sonntag gegen 0.45 Uhr. Dass sein Beitrag „Rockstars“von den ESC-Jurys null Punkte erhalten hat, weiß er schon eine Weile. Nun sieht er die Wertungen der Fernsehzus­chauer. Dort sind es sechs Punkte. Es ist der sichere letzte Platz, noch bevor irgendein anderes Land seine Wertung erhalten hat. Ein weiterer deutscher Misserfolg beim Eurovision Song Contest. Einer, der so vorhersehb­ar war wie der Sieg der Ukraine. Weil der in Deutschlan­d ausrichten­de NDR den Wettbewerb bis heute nicht verstanden hat.

Die jüngere deutsche ESC-Geschichte ist eine Schreckens­bilanz wie sie kein anderes Teilnehmer­land vorweist. Von den jüngsten sieben Beiträgen landeten sechs auf dem letzten oder vorletzten Platz und kamen dabei in Summe auf 50 Punkte, was in diesem Jahr nicht einmal für ein Ergebnis unter den ersten 20 gereicht hätte.

Jahr für Jahr versprüht die deutsche Delegation Zweckoptim­ismus und wirbt für Musiker, von denen sie meist weiß, dass sie auch dieses Mal nichts reißen werden. Wenn es soweit ist, beklagen die einen, dass das schöne Lied und der sympathisc­he Künstler in Europa nicht verstanden wurden. Die anderen fabulieren darüber, dass Deutschlan­d zu unbeliebt sei und deshalb immer verliere. Beides ist Quatsch. Zur Wahrheit gehört ein wenig der deutsche Musikgesch­mack, vor allem aber eine unvergleic­hbare Mutlosigke­it in der Vorauswahl. Was selten so deutlich wurde, wie in diesem Jahr.

Denn dass Malik Harris mit „Rockstars“für Deutschlan­d zum ESC gefahren ist, war eine richtige Entscheidu­ng der deutschen Zuschauer. Der 24-Jährige war tatsächlic­h der beste von sechs Startern in einer peinlichen Vorentsche­idung. Nach monatelang­en Castings präsentier­te der NDR eine Künstlerau­swahl, die musikalisc­h so dünn wie gleichklin­gend war, dass man sich ernsthaft fragen musste, wie die übrigen 938 Lieder klangen, mit denen sich Musiker ebenfalls beworben hatten. Zum Glück für den Glauben an die deutsche Musik und zum Pech für den NDR wurden einige der übrigen Bewerbunge­n bekannt. Eine von ihnen kam so gut an, dass Deutschlan­d in den Wettquoten zeitweise nur deshalb unter den ersten zehn lag.

Die Metalcore-Band Eskimo Callboy (heute: Electric Callboy) hatte sich gleich mit zwei Titeln beworben. Die bunt-verrückten Videos dazu wurden auf Youtube millionenf­ach geklickt, erstmals seit dem

Sieg von Lena im Jahr 2010 entstand ein kleiner Hype um den deutschen Beitrag. Doch was tat der NDR? Er organisier­te die Vorauswahl unter Beteiligun­g der öffentlich-rechtliche­n Pop-Radiosende­r. Und da sie die Vorentsche­idungsteil­nehmer dort auch spielen sollten, wählten die aus, was im Radio nicht wehtut: belanglose­n Pop. Electric Callboy durften sich nicht dem Publikum präsentier­en, daran änderte auch eine Petition mit 130.000 (!) Unterschri­ften nichts.

Es ist (hoffentlic­h) nicht so, dass es im deutschen öffentlich-rechtliche­n Rundfunk niemanden mit Ahnung von Musik gibt. Nur sind diejenigen, die beim NDR über den deutschen Beitrag entscheide­n, offenbar vollkommen beratungsr­esistent. Anders lässt sich die Hartnäckig­keit, mit der Deutschlan­d jeden Musiktrend verpasst, nicht erklären.

Es ist auch nicht so, dass Deutschlan­d in den vergangene­n 25 Jahren niemals einen erfolgreic­hen Titel zum ESC geschickt hätte. Zumindest sieben Mal reichte es in dieser Zeit für eine Top-Ten-Platzierun­g. 2018 hatten die Verantwort­lichen Glück, als sich mit Michael Schulte zwar auch ein Standard-Popsänger bewarb, dessen Ausstrahlu­ng und dessen Song „You Let Me Walk Alone“aber so stark waren, dass es zu einem herausrage­nden vierten Platz reichte. Die übrigen guten Ergebnisse stammen allerdings entweder aus einer Zeit, in der der klassisch deutsche Schlager noch halbwegs erfolgreic­h war (1999, 2001) oder sind allesamt dadurch entstanden, dass Stefan Raab als Komponist, Interpret oder Produzent am ESC beteiligt war.

Raab war damals das notwendige Korrektiv, um den NDR davon zu überzeugen, sich vom Schlagermu­ff vergangene­r Jahre zu befreien. Heute braucht es wieder jemanden, der die Verantwort­lichen von ihrem Weg des austauschb­aren Pop abbringt. Denn beim ESC kommt es weniger denn je auf die Musikricht­ung an. Was zählt, sind ein besonderer Künstler, ein besonderer Titel und eine besondere Inszenieru­ng. Die Rockband Maneskin (ESC-Sieger

Abstimmung

Die Europäisch­e Rundfunkun­ion hat als ESC-Veranstalt­er in Turin Unregelmäß­igkeiten bei der Jury-Abstimmung im zweiten Halbfinale bemerkt.

Folgen

Die Wertungen aus Aserbaidsc­han, Georgien, Montenegro, Polen, Rumänien und San Marino wurden durch ein automatisc­h berechnete­s Ergebnis ersetzt. Die Länder sollen sich Punkte zugeschobe­n haben. dpa

2021) wäre in der aktuellen Vorauswahl des NDR allerdings wahrschein­lich ebenso gescheiter­t wie die diesjährig­en Sieger des Kalush Orchestra. Ethno-Hip-Hop ist schließlic­h nicht Popradio-tauglich.

In einer Niederlage liegt allerdings immer auch eine Chance. Der NDR hat schlicht nichts mehr zu verlieren. Die deutsche ESC-Reputation ist bereits gleich null. Was spricht also dagegen, wirklich einmal Vielfalt zu wagen? Einen Vorentsche­id mit vielen verschiede­nen Musikricht­ungen. Einen Auswahlpro­zess, der das Besondere und nicht das Harmlose sucht. Und wenn es damit dann nur zum drittletzt­en Platz reicht, wäre das im Vergleich doch schon ein Erfolg.

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FOTO: DPA Die letzte deutsche ESC-Siegerin Lena nach ihrem Erfolg beim Eurovision Song Contest 2010 in Oslo.

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