Rheinische Post - Geldern an Kevelaer
„Es könnte das letzte Album werden“
Der Sänger der Toten Hosen spricht über den Ukraine-Krieg, Waffenlieferungen und die Zukunft seiner Band. Er verrät, wie er seinen 60. Geburtstag begeht, und schickt eine Liebesbotschaft an Kuddel.
er in diesen Tagen die mächtige Glastür zum Hauptquartier der ToWten
Hosen im Düsseldorfer Stadtteil Flingern aufstößt, wird sich wundern. Keine Spur von Hektik, im Gegenteil. Das Büro wirkt wie eine Ruheinsel, gedämpftes Sprechen, gemächliches Schreiten. Dabei erscheint doch am 27. Mai die Klassikersammlung „Alles aus Liebe: 40 Jahre Die Toten Hosen“, die auch sieben neue Stücke enthält. Am 7. Juni beginnt die große Stadion-Tournee. Und am 22. Juni wird Campino 60. Auffallend gelassen betritt er dann auch den Besprechungsraum in der ersten Etage. An der Wand hängt ein Gemälde mit dem CoverMotiv der LP „Kreuzzug ins Glück“. Nebenan steht die Goldene Schallplatte für „Ein kleines bisschen Horrorshow“. Und als Türstopper dient ein „Swiss Music Award“.
Hast du vor 40 Jahren gedacht, dass du mal der 60-Jährige wirst, der du demnächst bist?
CAMPINO Das war gedanklich viel zu weit weg und für mich irgendwas Diffuses in der Zukunft. Ob ich das erreichen würde oder nicht, darüber habe ich mir nicht den Kopf zerbrochen, weil ich es schon verdammt alt fand, wenn man überhaupt 50 wurde. Der 60-Jährige ist in der Vorstellung jedes 20-Jährigen ein Rentner. Ich hätte nicht geglaubt, dass man in diesem Alter noch echte Spinnereien im Kopf hat und auch noch sehr oft am Tag Unsinn denkt oder sich Quatsch erlaubt. Ich glaube, die Generation meiner Eltern hat sich weitaus stärker bemüht als wir heutzutage, mit einer gewissen Würde in diesen Altersbereich vorzudringen. Ich hatte keinen ausgeflippten Onkel, der mir eine Verrücktheit vorgelebt hätte. Man darf aber auch nicht vergessen: Wenn die 60 waren, als ich zehn war, haben sie den Krieg durchgemacht. Wer das erleben musste, ist ohnehin um mehrere Jahrzehnte gealtert und war viel eher mit dem zufrieden, was er hatte, und der Tatsache, dass einfach Ruhe war.
40 Jahre Tote Hosen, das ist auch eine alternative Geschichte Deutschlands. Würdest du sagen, der von Olaf Scholz als „Zeitenwende“bezeichnete Angriffskrieg gegen die Ukraine ist das einschneidendste Erlebnis in eurer Karriere?
CAMPINO Auf keinen Fall. Für mich überstrahlt der Fall der Mauer das, was zurzeit geschieht, immer noch. Wollen wir alle beten, dass es so bleibt. Ich kann ja nicht voraussagen, wie diese Angelegenheit noch eskalieren wird. Ob Russland den Nato-Beitritt anderer Länder als Kriegserklärung auffassen wird. Wir sind durch Zeitenwenden gegangen, die deutlich positiver und strahlender waren als das, was wir aktuell erleben müssen. Es ist ein bitterer Moment voller Unsicherheit und Ohnmacht, den wir alle spüren. Und das Fatale ist natürlich: Egal, auf welche Seite wir uns schlagen, wir werden uns beschädigen. Da kommt keiner mehr mit einer weißen Weste raus.
Künstler und Intellektuelle haben Offene Briefe geschrieben und Olaf Scholz kritisiert: Wie denkst du über Waffenlieferungen?
CAMPINO Wenn wir keine Waffen liefern, könnte das ganz böse enden. Dann würden wir daneben stehen und zusehen, wie Lebensträume zerschossen werden. Waffenlieferungen könnten potenziell aber auch bedeuten, dass sehr viel mehr Menschen sterben, als wir uns heute ausrechnen können. Insofern habe ich Verständnis für jegliches Zögern und Zaudern der Entscheidungsträger. Da hängt eine ganze Menge dran. Man sollte so etwas nicht als Handlungsunfähigkeit oder Kompetenzlosigkeit beschreiben, das wäre ungerecht. Es ist einfach eine brutal schwierige Situation.
Es gibt keine beständige Wertegrundlage mehr. Man muss sich jeden Tag neu sortieren und nach der jeweiligen Entwicklung entscheiden. Der Kompass muss ständig neu ausgerichtet werden.
CAMPINO Das sehe ich auch so. Die Welt ist auf den Kopf gestellt. Man kommt mit den Erkenntnissen der letzten 40, 50 Jahre nicht mehr weiter. Ich glaube, dass all jene, die in den 70er-, 80er- und 90er-Jahren aus Gewissensgründen nicht zur Bundeswehr gegangen sind, aus dem zeitlichen Kontext heraus gute Gründe hatten. Ich habe es selber genauso gemacht. Heute bin ich mir deutlich unsicherer. Ich würde wahrscheinlich zur Bundeswehr gehen, wenn ich dazu aufgefordert würde.
Warum?
CAMPINO Weil ich vor mir selbst nicht rechtfertigen könnte, einerseits zu Hause zu bleiben und andererseits brutal vorgeführt zu bekommen, wie wehrlos Europa zurzeit ist. Vor allem in dem Moment, wo sich die Amerikaner wegdrehen. Die Unzuverlässigkeit der USA ist uns durch die Trump-Jahre noch einmal besonders vor Augen geführt worden. Es wäre verlogen, zu sagen, ich gehe selber nicht hin und andererseits zu hoffen, dass mein Nachbar die Aufgabe erledigt.
Würdest du deinem Sohn raten, zur Bundeswehr zu gehen?
CAMPINO Ich würde ihn nicht überreden hinzugehen. Ich würde ihn aber auch nicht drängen, der Sache fernzubleiben.
Viele Gruppen begannen als Freunde, bei ganz wenigen hält die Freundschaft. Seid ihr die letzte Kumpel-Band?
CAMPINO Ich weiß gar nicht, ob das so ideal ist, was wir da machen. Es gibt ja auch die Theorie, dass durch Reibung Kreatives entsteht. Schon die Rolling Stones waren Meister der öffentlichen Auseinandersetzung, von Oasis nur matt kopiert. So eine innere Spannung brauchen manche vielleicht auch. Allerdings gibt es bei uns einfach keine zwei Egos, die auf demselben Gebiet gut sind und zusammenstoßen. Ich kann Kuddel nicht das Wasser reichen in der Musik. Wenn ich jetzt gut Gitarre spielen könnte, wer weiß, ob ich dann anders beim Schreiben argumentieren würde.
Wofür brauchst du ihn genau?
CAMPINO Abgesehen davon, dass ich ihn als Freund brauche und als Fels in der Brandung auf der Bühne, ist er mein Schlüssel zur Welt der Musik. Er macht meine Melodien fassbar. Ich habe mir schon als kleiner Junge Radiosendungen vorgestellt, in denen ich als erfundene Band ein neues Album präsentierte. Ich konnte tatsächlich über mehrere Tage die von mir selbst ausgedachten Melodien
im Kopf behalten. Wenn ich dann zum Beispiel an einem Dienstag eine neue Sendung aufnahm, konnte es vorkommen, dass ich sagte „Hier ist die Band von letztem Montag mit ihrem neuen Song” – und dieses eingebildete Lied hatte ich die ganze Woche im Ohr. In all der Zeit hatte ich aber nie die Geduld, ein Instrument so zu lernen, dass ich das auch festhalten konnte. Kuddel hört mir gut zu. Er hat das absolute Gehör, ich brauche ihm nur etwas vorzusingen, dann weiß er Bescheid. Und er ist unheimlich schnell darin zu verstehen, welche Sounds ich mir dabei vorstelle, ob es härter sein soll oder abgedämpft. Umgekehrt ist es so, wenn er mir was vorspielt, eine Akkordfolge zum Beispiel, dann habe ich sofort eine Melodie dafür, die passt. Letztendlich kann man Musik auf vielerlei Arten schreiben. Aber ich glaube daran, dass in der Welt, in der wir Musik machen, das Entscheidende der Leadgesang oder die führende Melodie ist. Darunter baut man die rhythmischen Geschichten und die Basis, um Dampf zu machen und dem Ganzen einen Unterbau zu geben.
Es klingt, als wärt ihr die Lennon/McCartney aus Düsseldorf.
CAMPINO Also ich sage das jetzt mit einem Zwinkern, nicht ganz ernst gemeint: Breiti wäre dann ein bisschen der George Harrison, der ausgiebig vor sich hinarbeitet und hin und wieder ein geniales Tor schießt. Der aber ganz oft auch aushalten muss, dass man sagt: Auch eine gute Idee, das machen wir nächste Woche. Er ist manchmal ein bisschen außen vor, wenn Kuddel und ich vor lauter Vorfreude die Sache übernehmen und im Pingpong die Dinge weiter ausgestalten. Auch Andi muss das aushalten, aber letztendlich sind es die beiden, die auch immer wieder mal mit einer richtigen Hitmelodie auftauchen.
Du schreibst im Begleittext zum Album: „Liebeslieder. Wenn sie gut sind, gibt es nichts Besseres.“Wie schreibst du Liebeslieder? Groovst du dich mit großen Love Songs ein, bevor du selbst einen schreibst? Und falls ja, mit welchen?
CAMPINO Das vermeide ich um jeden Preis, weil ich dann Gefahr liefe, Stellen und Emotionen zu zitieren oder mich daran zu bedienen. Aber natürlich ist „Nothing Compares 2 U“für mich ein Lied, das uneingeholt oben ist in der Rubrik „gebrochene Herzen”. Wie Sinead O’Connor das gesungen hat, ist nach wie vor unfassbar. „It Must Be Love“von Madness gehört ebenfalls dazu. Und immer wieder Elvis Costello. Zunächst einmal müssten wir aber definieren, was alles ein Liebeslied sein kann. Ich finde, auch „Working Class Hero“ist ein Liebeslied. Lieder über Freundschaften sind Liebeslieder. Alles, was eine friedvolle, liebevolle Betrachtung der Dinge ist, ist für mich ein Liebeslied.
Du hast ein neues Liebeslied geschrieben, „Amore Felice“. Da stehst du für deine Liebste bei Burger King um einen Hamburger an. Was hat sie gesagt, als du es ihr vorgespielt hast?
CAMPINO Sie hat einen guten Humor und konnte sehr darüber lachen. Vor allem, weil wir nicht die typischen Burger-King-Kunden sind und sie sehr lange Vegetarierin war. Aber einmal im Jahr, da stoßen wir uns an und sagen, jetzt brauchen wir das einfach. Ich habe versucht, das Lied so zu halten, dass es jeder für sich nehmen kann. Natürlich wollen wir alle für unsere Liebste der tolle Bodyguard sein. Ich mochte diese Erhöhung, sie in meinem Kopf direkt neben Grace Kelly und Julia Roberts zu stellen, und im selben Moment den grauen Alltag zu zeigen, wenn du einfach nur bei Burger King stehst und eine Bestellung abholst.
Ich glaube, dass Stadionkonzerte gerade jetzt wichtig sind. Weil da für drei Stunden 60.000 Menschen nach Corona und unter dem Eindruck des Krieges das Zusammensein feiern.
CAMPINO Ich hoffe auch. Es geht nicht darum, die aktuelle Situation zu ignorieren. Da fährt immer die Sorge mit. Nach zweieinhalb Jahren Corona sind die Menschen davon gebeutelt, und du spürst auch im Verhalten, dass sie dem Braten noch nicht trauen: Findet das Konzert wirklich statt, kann ich da hingehen? Es ist eine Zeit der Wiedereingewöhnung. Ich sehe die Chance, dass die Abende besonders werden könnten. Weil wir alle spüren, wie kostbar unsere Freiheit ist und wie zerbrechlich solche Momente. Gemeinsam mit Freunden feiern oder sich mal berühren. Wir hatten uns das Jubiläum vor zwei Jahren auch fröhlicher und sorgloser ausgemalt. Aber es ist, wie es ist, und die Toten Hosen waren immer gut darin, aktuelle Stimmungen zum Ausdruck zu bringen.
Das erste Düsseldorfer Konzert liegt zwei Tage nach deinem 60. Geburtstag. Wird das die eigentliche Party? Oder sollte man lieber nicht hingehen, weil du bestimmt noch verkatert bist?
CAMPINO Ich werde meinen Geburtstag unterordnen und niemanden einladen an dem Tag, sondern mich ganz ruhig auf die Konzerte vorbereiten. Da gibt es bei mir keinen Gewissenskonflikt und kein Zögern. Ich könnte es nicht übers Herz bringen, 60.000 Menschen zu sagen, ich bin heute nicht ganz so gut drauf, weil ich gestern Abend mit zwei Dutzend Freunden zusammengesessen habe.
Jetzt erstmal ein Best-of-Album mit sieben neuen Liedern. Kommt noch eine komplett neue Platte?
CAMPINO Das denke ich schon. Die Lust ist bei allen vorhanden. Wir wollen nochmal intensiv erleben, vom ersten bis zum letzten Moment, was es bedeutet, ein richtiges Album aufzunehmen. Es könnte das letzte werden. Aber diesen einen Versuch werden wir hoffentlich noch machen. Nicht in den nächsten zwei Jahren, aber dann legen wir los und schauen, was geht.