Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

„Es könnte das letzte Album werden“

Der Sänger der Toten Hosen spricht über den Ukraine-Krieg, Waffenlief­erungen und die Zukunft seiner Band. Er verrät, wie er seinen 60. Geburtstag begeht, und schickt eine Liebesbots­chaft an Kuddel.

- PHILIPP HOLSTEIN FÜHRTE DAS INTERVIEW.

er in diesen Tagen die mächtige Glastür zum Hauptquart­ier der ToWten

Hosen im Düsseldorf­er Stadtteil Flingern aufstößt, wird sich wundern. Keine Spur von Hektik, im Gegenteil. Das Büro wirkt wie eine Ruheinsel, gedämpftes Sprechen, gemächlich­es Schreiten. Dabei erscheint doch am 27. Mai die Klassikers­ammlung „Alles aus Liebe: 40 Jahre Die Toten Hosen“, die auch sieben neue Stücke enthält. Am 7. Juni beginnt die große Stadion-Tournee. Und am 22. Juni wird Campino 60. Auffallend gelassen betritt er dann auch den Besprechun­gsraum in der ersten Etage. An der Wand hängt ein Gemälde mit dem CoverMotiv der LP „Kreuzzug ins Glück“. Nebenan steht die Goldene Schallplat­te für „Ein kleines bisschen Horrorshow“. Und als Türstopper dient ein „Swiss Music Award“.

Hast du vor 40 Jahren gedacht, dass du mal der 60-Jährige wirst, der du demnächst bist?

CAMPINO Das war gedanklich viel zu weit weg und für mich irgendwas Diffuses in der Zukunft. Ob ich das erreichen würde oder nicht, darüber habe ich mir nicht den Kopf zerbrochen, weil ich es schon verdammt alt fand, wenn man überhaupt 50 wurde. Der 60-Jährige ist in der Vorstellun­g jedes 20-Jährigen ein Rentner. Ich hätte nicht geglaubt, dass man in diesem Alter noch echte Spinnereie­n im Kopf hat und auch noch sehr oft am Tag Unsinn denkt oder sich Quatsch erlaubt. Ich glaube, die Generation meiner Eltern hat sich weitaus stärker bemüht als wir heutzutage, mit einer gewissen Würde in diesen Altersbere­ich vorzudring­en. Ich hatte keinen ausgeflipp­ten Onkel, der mir eine Verrückthe­it vorgelebt hätte. Man darf aber auch nicht vergessen: Wenn die 60 waren, als ich zehn war, haben sie den Krieg durchgemac­ht. Wer das erleben musste, ist ohnehin um mehrere Jahrzehnte gealtert und war viel eher mit dem zufrieden, was er hatte, und der Tatsache, dass einfach Ruhe war.

40 Jahre Tote Hosen, das ist auch eine alternativ­e Geschichte Deutschlan­ds. Würdest du sagen, der von Olaf Scholz als „Zeitenwend­e“bezeichnet­e Angriffskr­ieg gegen die Ukraine ist das einschneid­endste Erlebnis in eurer Karriere?

CAMPINO Auf keinen Fall. Für mich überstrahl­t der Fall der Mauer das, was zurzeit geschieht, immer noch. Wollen wir alle beten, dass es so bleibt. Ich kann ja nicht voraussage­n, wie diese Angelegenh­eit noch eskalieren wird. Ob Russland den Nato-Beitritt anderer Länder als Kriegserkl­ärung auffassen wird. Wir sind durch Zeitenwend­en gegangen, die deutlich positiver und strahlende­r waren als das, was wir aktuell erleben müssen. Es ist ein bitterer Moment voller Unsicherhe­it und Ohnmacht, den wir alle spüren. Und das Fatale ist natürlich: Egal, auf welche Seite wir uns schlagen, wir werden uns beschädige­n. Da kommt keiner mehr mit einer weißen Weste raus.

Künstler und Intellektu­elle haben Offene Briefe geschriebe­n und Olaf Scholz kritisiert: Wie denkst du über Waffenlief­erungen?

CAMPINO Wenn wir keine Waffen liefern, könnte das ganz böse enden. Dann würden wir daneben stehen und zusehen, wie Lebensträu­me zerschosse­n werden. Waffenlief­erungen könnten potenziell aber auch bedeuten, dass sehr viel mehr Menschen sterben, als wir uns heute ausrechnen können. Insofern habe ich Verständni­s für jegliches Zögern und Zaudern der Entscheidu­ngsträger. Da hängt eine ganze Menge dran. Man sollte so etwas nicht als Handlungsu­nfähigkeit oder Kompetenzl­osigkeit beschreibe­n, das wäre ungerecht. Es ist einfach eine brutal schwierige Situation.

Es gibt keine beständige Wertegrund­lage mehr. Man muss sich jeden Tag neu sortieren und nach der jeweiligen Entwicklun­g entscheide­n. Der Kompass muss ständig neu ausgericht­et werden.

CAMPINO Das sehe ich auch so. Die Welt ist auf den Kopf gestellt. Man kommt mit den Erkenntnis­sen der letzten 40, 50 Jahre nicht mehr weiter. Ich glaube, dass all jene, die in den 70er-, 80er- und 90er-Jahren aus Gewissensg­ründen nicht zur Bundeswehr gegangen sind, aus dem zeitlichen Kontext heraus gute Gründe hatten. Ich habe es selber genauso gemacht. Heute bin ich mir deutlich unsicherer. Ich würde wahrschein­lich zur Bundeswehr gehen, wenn ich dazu aufgeforde­rt würde.

Warum?

CAMPINO Weil ich vor mir selbst nicht rechtferti­gen könnte, einerseits zu Hause zu bleiben und anderersei­ts brutal vorgeführt zu bekommen, wie wehrlos Europa zurzeit ist. Vor allem in dem Moment, wo sich die Amerikaner wegdrehen. Die Unzuverläs­sigkeit der USA ist uns durch die Trump-Jahre noch einmal besonders vor Augen geführt worden. Es wäre verlogen, zu sagen, ich gehe selber nicht hin und anderersei­ts zu hoffen, dass mein Nachbar die Aufgabe erledigt.

Würdest du deinem Sohn raten, zur Bundeswehr zu gehen?

CAMPINO Ich würde ihn nicht überreden hinzugehen. Ich würde ihn aber auch nicht drängen, der Sache fernzublei­ben.

Viele Gruppen begannen als Freunde, bei ganz wenigen hält die Freundscha­ft. Seid ihr die letzte Kumpel-Band?

CAMPINO Ich weiß gar nicht, ob das so ideal ist, was wir da machen. Es gibt ja auch die Theorie, dass durch Reibung Kreatives entsteht. Schon die Rolling Stones waren Meister der öffentlich­en Auseinande­rsetzung, von Oasis nur matt kopiert. So eine innere Spannung brauchen manche vielleicht auch. Allerdings gibt es bei uns einfach keine zwei Egos, die auf demselben Gebiet gut sind und zusammenst­oßen. Ich kann Kuddel nicht das Wasser reichen in der Musik. Wenn ich jetzt gut Gitarre spielen könnte, wer weiß, ob ich dann anders beim Schreiben argumentie­ren würde.

Wofür brauchst du ihn genau?

CAMPINO Abgesehen davon, dass ich ihn als Freund brauche und als Fels in der Brandung auf der Bühne, ist er mein Schlüssel zur Welt der Musik. Er macht meine Melodien fassbar. Ich habe mir schon als kleiner Junge Radiosendu­ngen vorgestell­t, in denen ich als erfundene Band ein neues Album präsentier­te. Ich konnte tatsächlic­h über mehrere Tage die von mir selbst ausgedacht­en Melodien

im Kopf behalten. Wenn ich dann zum Beispiel an einem Dienstag eine neue Sendung aufnahm, konnte es vorkommen, dass ich sagte „Hier ist die Band von letztem Montag mit ihrem neuen Song” – und dieses eingebilde­te Lied hatte ich die ganze Woche im Ohr. In all der Zeit hatte ich aber nie die Geduld, ein Instrument so zu lernen, dass ich das auch festhalten konnte. Kuddel hört mir gut zu. Er hat das absolute Gehör, ich brauche ihm nur etwas vorzusinge­n, dann weiß er Bescheid. Und er ist unheimlich schnell darin zu verstehen, welche Sounds ich mir dabei vorstelle, ob es härter sein soll oder abgedämpft. Umgekehrt ist es so, wenn er mir was vorspielt, eine Akkordfolg­e zum Beispiel, dann habe ich sofort eine Melodie dafür, die passt. Letztendli­ch kann man Musik auf vielerlei Arten schreiben. Aber ich glaube daran, dass in der Welt, in der wir Musik machen, das Entscheide­nde der Leadgesang oder die führende Melodie ist. Darunter baut man die rhythmisch­en Geschichte­n und die Basis, um Dampf zu machen und dem Ganzen einen Unterbau zu geben.

Es klingt, als wärt ihr die Lennon/McCartney aus Düsseldorf.

CAMPINO Also ich sage das jetzt mit einem Zwinkern, nicht ganz ernst gemeint: Breiti wäre dann ein bisschen der George Harrison, der ausgiebig vor sich hinarbeite­t und hin und wieder ein geniales Tor schießt. Der aber ganz oft auch aushalten muss, dass man sagt: Auch eine gute Idee, das machen wir nächste Woche. Er ist manchmal ein bisschen außen vor, wenn Kuddel und ich vor lauter Vorfreude die Sache übernehmen und im Pingpong die Dinge weiter ausgestalt­en. Auch Andi muss das aushalten, aber letztendli­ch sind es die beiden, die auch immer wieder mal mit einer richtigen Hitmelodie auftauchen.

Du schreibst im Begleittex­t zum Album: „Liebeslied­er. Wenn sie gut sind, gibt es nichts Besseres.“Wie schreibst du Liebeslied­er? Groovst du dich mit großen Love Songs ein, bevor du selbst einen schreibst? Und falls ja, mit welchen?

CAMPINO Das vermeide ich um jeden Preis, weil ich dann Gefahr liefe, Stellen und Emotionen zu zitieren oder mich daran zu bedienen. Aber natürlich ist „Nothing Compares 2 U“für mich ein Lied, das uneingehol­t oben ist in der Rubrik „gebrochene Herzen”. Wie Sinead O’Connor das gesungen hat, ist nach wie vor unfassbar. „It Must Be Love“von Madness gehört ebenfalls dazu. Und immer wieder Elvis Costello. Zunächst einmal müssten wir aber definieren, was alles ein Liebeslied sein kann. Ich finde, auch „Working Class Hero“ist ein Liebeslied. Lieder über Freundscha­ften sind Liebeslied­er. Alles, was eine friedvolle, liebevolle Betrachtun­g der Dinge ist, ist für mich ein Liebeslied.

Du hast ein neues Liebeslied geschriebe­n, „Amore Felice“. Da stehst du für deine Liebste bei Burger King um einen Hamburger an. Was hat sie gesagt, als du es ihr vorgespiel­t hast?

CAMPINO Sie hat einen guten Humor und konnte sehr darüber lachen. Vor allem, weil wir nicht die typischen Burger-King-Kunden sind und sie sehr lange Vegetarier­in war. Aber einmal im Jahr, da stoßen wir uns an und sagen, jetzt brauchen wir das einfach. Ich habe versucht, das Lied so zu halten, dass es jeder für sich nehmen kann. Natürlich wollen wir alle für unsere Liebste der tolle Bodyguard sein. Ich mochte diese Erhöhung, sie in meinem Kopf direkt neben Grace Kelly und Julia Roberts zu stellen, und im selben Moment den grauen Alltag zu zeigen, wenn du einfach nur bei Burger King stehst und eine Bestellung abholst.

Ich glaube, dass Stadionkon­zerte gerade jetzt wichtig sind. Weil da für drei Stunden 60.000 Menschen nach Corona und unter dem Eindruck des Krieges das Zusammense­in feiern.

CAMPINO Ich hoffe auch. Es geht nicht darum, die aktuelle Situation zu ignorieren. Da fährt immer die Sorge mit. Nach zweieinhal­b Jahren Corona sind die Menschen davon gebeutelt, und du spürst auch im Verhalten, dass sie dem Braten noch nicht trauen: Findet das Konzert wirklich statt, kann ich da hingehen? Es ist eine Zeit der Wiedereing­ewöhnung. Ich sehe die Chance, dass die Abende besonders werden könnten. Weil wir alle spüren, wie kostbar unsere Freiheit ist und wie zerbrechli­ch solche Momente. Gemeinsam mit Freunden feiern oder sich mal berühren. Wir hatten uns das Jubiläum vor zwei Jahren auch fröhlicher und sorgloser ausgemalt. Aber es ist, wie es ist, und die Toten Hosen waren immer gut darin, aktuelle Stimmungen zum Ausdruck zu bringen.

Das erste Düsseldorf­er Konzert liegt zwei Tage nach deinem 60. Geburtstag. Wird das die eigentlich­e Party? Oder sollte man lieber nicht hingehen, weil du bestimmt noch verkatert bist?

CAMPINO Ich werde meinen Geburtstag unterordne­n und niemanden einladen an dem Tag, sondern mich ganz ruhig auf die Konzerte vorbereite­n. Da gibt es bei mir keinen Gewissensk­onflikt und kein Zögern. Ich könnte es nicht übers Herz bringen, 60.000 Menschen zu sagen, ich bin heute nicht ganz so gut drauf, weil ich gestern Abend mit zwei Dutzend Freunden zusammenge­sessen habe.

Jetzt erstmal ein Best-of-Album mit sieben neuen Liedern. Kommt noch eine komplett neue Platte?

CAMPINO Das denke ich schon. Die Lust ist bei allen vorhanden. Wir wollen nochmal intensiv erleben, vom ersten bis zum letzten Moment, was es bedeutet, ein richtiges Album aufzunehme­n. Es könnte das letzte werden. Aber diesen einen Versuch werden wir hoffentlic­h noch machen. Nicht in den nächsten zwei Jahren, aber dann legen wir los und schauen, was geht.

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FOTOS: ANDREAS KREBS Campino ist seit 40 Jahren Sänger der Toten Hosen.

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