Rheinische Post - Geldern an Kevelaer
„Jeder hier hat sein Päckchen zu tragen“
In der Psychiatrischen Tagesklinik des Katholischen Karl-Leisner-Klinikums in Kalkar werden 14 Patienten betreut – ginge es nur nach dem Bedarf, könnten es deutlich mehr sein. Wir haben das multiprofessionelle Team einen Tag lang begleitet.
KALKAR Zu Beginn ein kurzer Test: Sie können sicher beschreiben, wie Kaffee riecht. Aber können Sie auch den Geruch von Kaffee beschreiben, ohne zu verraten, dass es sich um Kaffee handelt? Wie riecht Kaffee eigentlich? Gar nicht so einfach. Beschreiben ohne zu bewerten, nur eine Übung aus dem Gebiet der Achtsamkeit. Heute hat Tobias Schaale kleine Döschen mit Geruchsproben mitgebracht. Japanisches Minzöl, Sirup oder eben Kaffee. Schaale ist Fachgesundheitsund Krankenpfleger für psychiatrische Pflege, er arbeitet mit Patienten in der Psychiatrischen Tagesklinik des Katholischen KarlLeisner-Klinikums in Kalkar. Seine Arbeit und die seiner Kollegen ist gefragter denn je. Die Tagesklinik hat 14 Plätze. Ginge man nur nach der Nachfrage, könnten es erheblich mehr sein. Die Corona-Pandemie hat die Situation noch einmal verschärft.
Cornelia Schülke ist die Funktionsoberärztin in der Tagesklinik. „Unser Angebot richtet sich vor allem an Patienten mit Depressionen, Angst- und Panikstörungen, Zwangserkrankungen, Persönlichkeitsstörungen, Anpassungs- und posttraumatischen Belastungsstörungen“, sagt sie. Dafür arbeitet ein Team mit ganz verschiedenen Schwerpunkten zusammen. Fachärzte, Psychologen, Ergo- und Kunsttherapeuten, Bewegungstherapeuten, Sozialarbeiter und Fachkrankenpfleger.
Der Tag in der Klinik ist durchstrukturiert – in der Regel von 8 bis 16 Uhr. Abende, Nächte, Wochenenden und Feiertage verbringen die Patienten zuhause. Dadurch bleiben soziale Bindungen bestehen, aber eben auch einige Herausforderungen des Alltages. Das Programm ist ganz unterschiedlich: Es stehen Einzelgespräche und Chefarztvisiten an, Drama-Therapie, Backgruppen oder eben Achtsamkeit. Dabei geht es darum, mit der ganzen Aufmerksamkeit und Konzentration bei dem zu sein, was jetzt gerade ist. Durch Achtsamkeit soll die Wahrnehmung für das Umfeld, aber auch das eigene Empfinden und Verhalten verbessert werden. Das fällt vielen Menschen erstaunlich schwer, vor allem zu Beginn der Übungen. Zweimal in der Woche trifft sich die Achtsamkeitsgruppe von Tobias Schaale. Natürlich geht es dabei nicht immer darum, Gerüche zu beschreiben. Eine Kollegin nennt Schaale „unser Schweizer Taschenmesser“. Mit ihm können Patienten auch Sport üben – oder mal die Videospielkonsole anschmeißen.
So unterschiedlich das Programm ist, so vielfältig sind die Therapiebedürfnisse der Patienten. Schon die Strukturierung des Tages hilft manchen. Die Patienten lernen aber auch, mit der eigenen Erkrankung umzugehen oder persönliche Krisen zu überwinden. So wie Laura und Sophie, ihre Namen haben wir für den Artikel geändert. „Jeder hier hat sein Päckchen zu tragen“, sagt Laura. Bei ihr wurden Depression und eine Borderline-Erkrankung diagnostiziert, ihr Aufenthalt in der Tagesklinik ist nicht ihre erste Therapie. Schon vor Jahren war sie stationär in Behandlung. „Ich war an einem Punkt, an dem gar nichts mehr ging. Jetzt kümmere ich mich um mein Leben“, sagt sie. Die Tagesklinik helfe dabei sehr. „Es gibt hier auch sehr viel Therapie zwischen den Therapien.“
Sophie hatte Angstzustände, große Probleme, auf sich allein gestellt zu sein. „Mein Selbstbewusstsein hat sich in der Klinik sehr verändert. Man bekommt viele Werkzeuge an die Hand“, sagt sie. Bei der jungen Patientin gehört auch Berufsberatung dazu – denn auch Perspektiven für den Alltag und die berufliche Integration sind erklärte Ziele eines Aufenthalts in Kalkar. Dabei hilft auch die Lage der Klinik direkt am historischen Ortskern. Hier kann Erlerntes direkt ausprobiert werden – beim Einkaufen zum Beispiel.
Es ist Dienstag. Nach Therapiebeginn folgt die Morgen-Aktivierung, Zeitungsschau und die Achtsamkeitsübung. Danach teilt sich die Gruppe in Dramaund Ergotherapie. Alicia Ripkens ist Drama-Therapeutin. Die Arbeit in ihrer Gruppe ist immer aktiv, es geht um das Erfahren, Fühlen und Ausprobieren, um Aktivierung, Abgrenzung und Gefühlswahrnehmung. „Therapie darf auch mal Spaß machen. Es darf positive Gruppenerfahrungen geben, in der Menschen spüren, dass sie nicht direkt verstoßen werden“, sagt Ripkens. Heute hat sie aber nicht allein über das Programm der TherapieSitzung entschieden. Eine Patientin hat ihren letzten Tag – und darf sich zur Feier des Tages ein Spiel aussuchen. Es gibt Montagsmaler, aber mit Sprichwörtern. Kleider machen Leute, Wer A sagt, muss auch B sagen. Während manch ein Patient dabei schnell an seine Grenzen gerät, tun sich bei anderen unerwartet ganz neue Fähigkeiten auf. Wie draußen, im richtigen Leben. Anschließend eine ganz typische Übung: Die Patienten werfen sich gegenseitig einen Ball zu, zu jedem Vornamen wird eine positive Eigenschaft genannt. Die Vorurteile gegenüber Drama-Therapie kennt Alicia Ripkens. „Die spielen ja nur mit Bällchen herum.“Sie weiß aber auch um die Wirkung: Die Teilnehmer können an ihrer Selbst- und
„Ich war an einem Punkt, an dem gar nichts mehr ging. Jetzt kümmere ich mich um mein Leben“Laura
Fremdwahrnehmung arbeiten, bekannte Handlungsmuster durchbrechen und Alternativen finden. Das kann zwar keine Wunder bewirken – aber sehr effektiv helfen. Von Menschen, die in ihrem Arbeitsleben derart unter Stress stehen, dass sie psychisch vollkommen ausbrennen – bis zu jenen, für die es schon große Überwindung kostet, vor der Gruppe auch nur ein Wort zu sagen.
Nebenan wird gemalt und gesägt, gefeilt und geschliffen: Ergotherapie steht auf dem Programm. „Dabei geht es nicht darum, zum großen Künstler zu werden“, sagt Ergotherapeut Dennis Kirschner. „Sich Zeit für sich zu nehmen, das geht im Alltag oft unter“, sagt er. An den Wänden hängen Werke, die in vergangenen Sitzungen entstanden sind. Während des Aufenthaltes wird für die Patienten eine Umgebung geschaffen, die Halt und Sicherheit geben soll. Das Altersspektrum reicht für gewöhnlich von 18 bis 70 Jahren. So hilfreich eine Tagesklinik für Patienten
sein kann, so klar muss man erkennen, für wen sie nicht geeignet ist: Menschen mit vorrangiger Suchterkrankung, akuten Psychosen, Fremd- und Selbstgefährdung gehören eher in eine stationäre Behandlung. „Das sind schon volle Arbeitstage hier“, sagt Ärztin Cornelia Schülke. „Die Patienten müssen auch in der Lage sein, das Programm mitzumachen.“
Wenn das Programm am Nachmittag beendet ist, wissen alle, was sie den Tag über geleistet haben: Ärzte, Therapeuten und Patienten. „Ich bin manchmal abends richtig geschafft, wenn ich nach Hause komme“, sagt Patientin Laura. So viel Nachfrage es deutschlandweit nach Plätzen in Tageskliniken gibt, so groß ist auch der Bedarf nach gut ausgebildetem Personal. Fachpfleger Tobias Schaale ist sich aber sicher, genau das Richtige gefunden zu haben. „Das ist der beste Job der Welt. Ich würde ihn nicht tauschen wollen.“
Patientin