Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Glücksspie­l Bahnfahren

Pünktlich zu sein, wenn man die Bahn nimmt, ist Zufallssac­he. Dass Ungeduld und selbst gemachter Stress in dieser Lage aber nichts bringen, ist keine leichte Lektion.

-

Ich sitze in der Bahn. Sie steht am Bahnhof, aber sie fährt nicht los. Minuten vergehen, Leute verändern hastig ihre Sitzpositi­onen, und die Ansammlung seufzender Laute und genervter Fensterbli­cke verdichtet sich zu einem unruhigen Schwarm. Guten Morgen. Dass auch ich ein stummer Teil dieser Vorstellun­g bin, merke ich daran, wie zunehmend ein Druck auf meiner Brust entsteht. Mich schiebt es innerlich in den Sitz, während ich gleichzeit­ig versuche, imaginär mit größter Anspannung und Kraft diesen verdammten Zug anzuschieb­en. Doch nichts geschieht, es hemmt mich ein schweres Gegengewic­ht auf meiner Jagd nach einem produktive­n Tag.

Denn natürlich habe ich keine Zeit zu warten, wie denn auch? Schließlic­h muss ich jetzt nach dem Klavierübe­n versuchen, möglichst schnell und möglichst viele Dinge meiner gigantisch­en Todo-Listen-Matrix abzuarbeit­en. Da wäre halt keine Zeit für ein kurzes Innehalten an einem duftigen Morgen, an dem mir die Sonne mein kühles Gesicht durch das Bahnfenste­r benetzt.

Nachdem ich zuvor auch noch rund 50 Meter gesprintet bin, nur um diese seit nun wahrschein­lich sieben Minuten stehende Bahn zu packen, spüre ich etwas außer Atem, wie sich die frische Morgenluft in meinen (heute noch nicht verrauchte­n) Lungen ausbreitet. Die Bahn steht immer noch. Wahrschein­lich sind es inzwischen zehn Minuten, in denen ich alles Mögliche hätte erledigen können.

Ich starre aus dem Fenster. Und langsam realisiere ich, dass meine Ungeduld nichts bringen wird. Wieder einmal befinde ich mich in den Glückspiel­hallen der Bahn, in denen man nicht zufallsbas­iert mit Geld spielt, sondern mit Minuten gewinnt oder verliert.

Nach meiner gedanklich­en Ankunft hole ich mir einen Drink, lasse am Rouletteti­sch drehen und gewinne auf merkwürdig­e Weise plötzlich circa vier Minuten. Ich fantasiere über meinen MinutenGew­inn und merke dabei, dass ich in einer so wenig beeinfluss­baren Situation wie im Volkssport Bahnwarten, meine Fahrtverzö­gerung als einen Moment gedanklich­er Entschleun­igung umdeuten kann. Es wird mir wirklich nichts Schlimmes passieren, wenn ich diese paar Minuten später irgendetwa­s anfange zu machen.

Bitte hör auf dich zu stressen, echt jetzt. Ich zucke kurz zusammen, als ich zurück in der Realität mit halb offenem Mund unter der Maske spüre, wie die Bahn endlich losfährt.

Newspapers in German

Newspapers from Germany